Zur Hypoform im transnationalen Gegenwartsdeutschen

Realempirische gegenwartsdeutsche Hypoformen tendieren dazu, sich auf einer Modulationsbreite (Vermittlungs-Toleranzbreite) von Vielpersonen-Umgebungen orthoepisch wie orthografisch einzupendeln. Dies dürfte auch für die künftige, selbstregulative, transnationale Leitvarietät des Gegenwartsdeutschen zutreffen. Eine dekretierte Kanonische Form des Gegenwartsdeutschen ist nicht und war zu keiner Zeit der Normalfall, weder in den schriftsprachlichen noch in den sprechsprachlich interpersonalen oder öffentlichen, mehrfachvermittelten, medienspezifischen Realisationsweisen.

Transnationalsprache ist ein medienrhetorisch und publizistisch geprägter Terminus der sprachlich-öffentlichen Kommunikation, kein historisch-sozial akzentuierter, europazentrierter oder nationalphilologischer Begriff. Deutschsprachige Muttersprachler (German Native Speaker, auch Deutsch-Primärsprachler genannt) und Deutsch-Fremdsprachler, Zweitsprachler und Deutsch-Drittsprachler zusammengenommen werden als Deutschsprechende bezeichnet. Das durch Ausgangspartner, Vermittlungspartner, Zielpartner und Rezipienten unmittelbar repräsentierte und mehrfach vermittelte global uneinheitlich situierte Gegenwartsdeutsche umfasst alle interpersonalen und transnationalen deutschen Partnerversammlungen und Sprachteilhaber in ihren dislozierten und weitverzweigten Verbreitungsgebieten und Gesprächsverfassungen. Gegenwartsdeutsch bildet eine empirisch uneinheitliche Menge an Äußerungen, Notationen und Varietäten. Ebenso uneinheitlich fixiert erscheint die Standard-Staffelung: Niederdeutsch, Mitteldeutsch, Oberdeutsch, Lëtzebuergesch, Schweizer Hochdeutsch, samt Dialekten, Regiolekten, vage eingrenzbaren Umgangssprachen und teils floatenden, teils hyperkritisch kodifizierten Varietäten, nicht zu vergessen dem ›richtigen‹ Behördendeutsch mit seiner dekretierten Kodifizierung: die heutige Kanzleisprache des Gegenwartsdeutschen, eine Minderheiten-Sprache. Kodifizierungs-Etappen am Meißnischen, Prager und oder Hannoveraner Hochdeutsch können wir hier nicht erörtern. Das hinsichtlich der Prosodik zusammenhängender Rede Modulationsbreite, Genrespezifik, Textgrammatik, Wortschatz-Entwicklung und symbolsprachlichen Notationskonventionen bis zu einem gewissen Grad eher asymmetrisch komponierte Global German existiert als adaptives, interpersonales, natürlichsprachliches, humanbiologosch selbstreguliertes System: die künftige Leitvarietät des Gegenwartsdeutschen. Deshalb kann in diesem Zusammenhang nicht von einer kanonischen Form gesprochen werden. Ob die wohlbekannten, normativ-präskriptiv motivierten, teils hyperprofilierten kanonischen Form-Konstrukte des Gegenwartsdeutschen so, wie es manche Duden-Domänenbildungen und Explikationsversuche suggerieren, als Mainstream-Wirklichkeit existieren, erscheint fragwürdig. Die dazu erforderliche, breite, pluralistische Diskussion kann hier nicht knapp eingepasst werden. Ich plädiere dafür, Hypoformen des Gegenwartsdeutschen stärker in Forschung und Lehrvermittlung zu berücksichtigen. Von der Hypoform, oder von Hypoformen dieses transnationalen Gegenwartsdeutschen zu sprechen, lässt sich begründen. Hypoformen des Gegenwartsdeutschen manifestieren sich heterogen- attraktiv, komplementär-kooperativ, informell, wenngleich nicht konfliktfrei, bezogen auf unterschiedliche Level oder Repräsentationsniveaus sprachstil- und varietätenkonvergent in technisch mediatisierten Foren und Gesprächsöffentlichkeiten bzw. ›Tagungsräumen‹. Nicht ohne informelle Normvorstellungen tendieren diese Hypoformen dazu, sich auf einer inhaltlich-semiotischen Modulationsbreite (Vermittlungs-Toleranzbreite) von Vielpersonen- Umgebungen orthoepisch wie orthografisch einzupendeln.

Hypoform-Zuordnung im europäischen Sprachreferenzrahmen

In Kompetenz und Performanz entsprechen Hypoformen sprachpragmatisch und zuordnungstolerant den erprobten Goethe-Zertifikatsniveaustufen für berufliches Deutsch (ZDfB) in fortgeschrittenen B2-Bereichen, für Wirtschaftsdeutsch (PWD) und C1, was auch TestDaF einbezieht. Nicht berücksichtigt werden hier dialektbasierte, dialektdurchwirkte und dominant dialektgeprägte Formen der Sprachkompetenz und Performanz (bedeutet keine Abwertung). Das wunderschöne C2-Niveau, das weitgehend der kanonischen Form im Sinne von Duden-Domänen entspricht, dürfte vernünftigerweise in der Drittsprachen-Lehrvermittlung generell weniger häufig anzuzielen sein. Die Kompetenzerweiterung und Performanz-Optimierung von C1 zu C2 (GDS) erfolgt erfahrungsgemäß langsam und zäh, was sich jahrelang hinziehen kann. Diese kanonische Form des transnationalen Gegenwartsdeutschen, zuordnungsfähig einem nachrecherchierbar stattlichen, fachsprachlich wie stilistisch profilierten C2-Niveau, stellt eine unter sehr günstigen, wenn nicht idealtypischen Bedingungen normativ-präskriptiv angezielte Äußerungsform dar und ist eben nicht die Normalform, sowohl in den schriftsprachlichen wie in den sprechsprachlich interpersonalen wie öffentlichen, mehrfachvermittelten Realisationsweisen. Wer Gegenwartsdeutsch permanent in seiner kanonisch vorbildlichen Form produziert und reproduziert – z.B. ohne Ellipsen, Anakoluthe oder Embolalia, zudem mit hyperkinetischer Artikulationsschärfe sowie kontinuierlich mit mischgrammatisch korrekten Hypotaxen und Parataxen samt rundformulierter Morphologie – disqualifiziert sich als Kommunikationspartner.

Die wesentlichen Repräsentationsformen des Gegenwartsdeutschen – Hypoform, Kanonische Form, Dialektform – lassen sich in Forschung und Lehre ganz brauchbar operationalisieren und auseinanderhalten, sicherlich mit Unschärfen. Zumal auf Connected-Speech-Level für auditiv-apperzeptiv-phänomenale Objektivierungsmodelle gesprochener Sprache und rhetorischer Interaktion. In der empirischen Forschung geht es oft um Grobeinschätzungen, um entsprechend quantifizieren zu können. In der Aussprache besagt Hypoform: eine pragmatische, minimalnormative Sprechstufen-Klassifikation in gebundener Rede. Tendenziell ist sie nicht hierar­chisch zu interpretieren, sondern koexistentiell. Im Kontrast zum traditionellen System-Beispiel der ›reinen Hochlautung‹, wie noch im ›Siebs‹ 1969 postuliert, lässt sich sagen: diese kanonische Höchststufe der ›reinen Hochlautung‹ war schon 1969 eine komplette Illusion. Sie fällt also ersatzlos weg. Anknüpfend an die dort minimalsegment-fixierte bis syllabierend dargestellte ›gemäßigte Hochlautung‹ einschließlich diverser Abweichungen – Koartikulationen, Assimilationen, Reduktionen sowie graduell hyperbolisierter Lautungen – lässt sich diese ›gemäßigte Hochlautung‹ als Groborientierung für die weniger häufig erreichte kanonische Form des Gegenwartsdeutschen heranhalten. Was ausdrücklich nicht mit der Hypoform identisch ist. Beim analysierenden und synthetisierenden Zuordnen ist zu beachten, dass die Ausgangsdaten der

Hypoformen nicht primär auf Minimalsegment- oder Silben-Ebene ausgewertet werden. Die angemessene Segment-Domäne ist die makrosegmentale Phrasierungseinheit (Nickl 1974/76).

Die kommunikatorzentriert flexible und normativ floatende Hypoform des Gegenwartsdeutschen rangiert als interpersonal und gruppenkommunikativ selbstregulatives Varietäten-System. Weder von dekretierenden Staatsbeamten aus den Relationsarealen der Kulturhoheit-der-Länder, noch von gesponserten, privat veranstalteten Duden-Editoren lässt sich die Hypoform kontrollieren. Transnationale Medien-Publika und Social Media sind auf aktive wie passive, anonyme und persönliche, transversal unstete Kommunikationsrollen mit Rollenvariabilität ihrer Akteure und Rezipienten angewiesen. Diese sind territorial und volksgruppenrelational zu verorten, je nach Digitalisierungsqualität, Reichweite und weiteren (hier ausgesparten) Bestimmungsstücken und Kriterien der sozialen und intellektuellen Zeitkommunikation. Pragmatisch wie theoriegeschichtlich knüpfen wir daher an das intelligente Konzept einer naciones-föderalen und territorien-übergreifenden hochteutschen Reichssprache an, das Kaspar von Stieler 1691 vorgelegt hat. Die Prägekraft des faktischen Sprachusus entscheidet. Es geht nicht ums globale ›Framing‹ oder um globale ›Kontexte‹ deutschsprachiger Partnerversammlungen und ihrer Tagungsräume, sondern um die neue transnationale Medienwirklichkeit einer deterritorialisierten, dislozierten, heterogenen, planetar-bizarren Sprachkommunikationsgemeinschaft. Deren Gesprächsverfassungen, Kommunikationsrationalisierungen und Kommunikationsrepräsentanzen können hier freilich weder rekonstruiert noch dargestellt werden. Im crossmedial-transnationalen Kommunikationsraum bilden Muttersprachler und Fremdsprachler jeglicher Couleur als Deutschsprechende bzw. Deutschsprachige eine adaptive, republikanisch verfasste, selbstregulierende Sprachkommunikationsgemeinschaft mit facettenreich ausdifferenzierten, tendenziell freiheitlich-demokratischen, unübersichtlichen Teilöffentlichkeiten. Pluridimensionalität und partikularisierte, oszillierende Repräsentationsniveaus kennzeichnen sie weiter. Als psychophysische Kommunikationspartner bleiben nicht nur alle Deutschsprechenden stets lokalisierbar. Und staatsnationale Klassifizierungen und Verrechtlichungen lösen sich zwar nicht flugs in virtuelle Medienrealitäten auf. Doch staatsnationale Bürokratien und in den professionalisierten Medien agierende, parteipolitische oder sonstwie begünstigte Bildungskohorten und Gruppenrepräsentanten können spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts weder die Artikulationsmodi und Denkfiguren, noch die Informationsflüsse und Kommentierungswege der sprachlich-öffentlichen Kommunikation in den innovativen, technologisch und wirtschaftlich hoch entwickelten und dicht vernetzten Industriestaaten effektiv regulierend und normierend bevormunden. Die Hypoform des transnationalen Gegenwartsdeutschen stellt dazu eine Probe aufs Exempel dar.

Die aktuell europazentriert dominierende, nationalterritoriale Plurizentrizität des gegenwartsdeutschen Sprachsystems enthält noch jene Dominanz des mitteleuropäisch geschlossenen Kerngebiets als Central European German. Langfristig dürfte sie an Einfluss verlieren. Der Begriff der normativ-präskriptiv hypostasierten, zentraleuropäisch fixierten Standardhierarchie erübrigt sich. Bisherige Standardvarietäten des Neuhochdeutschen verwandeln sich in museal anmutende Subsysteme. Ähnlich ergeht es dem vormals historisch-sozial geprägten, schier unüberwindlichen Terminus der deutschen Nationalsprache. Das strangulierende Prinzip cuius regio eius lingua lässt sich heute weder elitär noch übers Sprachbewusstsein machtsicherungsdynamisch wie im 19. und 20. Jahrhundert durchsetzen. Die festgestellte Ablösung nationalsprachlicher Identifizierungen und Klassifizierungen von der inneren Heterogenität des sprachlichen Gesamtsystems deutsch ['dɔjtʃ] »und der deutsch sprechenden Großgruppe« schien lange Zeit die Voraussetzung dafür gewesen zu sein, »daß dem Deutschen eine im Vergleich zum ebenso homogen gesehenen Französischen, Englischen, Japanischen u.s.w. spezifische kognitive Leistung zugeschrieben« wurde. Dies »auf der Basis idealistischer sprachphilosophischer Traditionen seit der Goethezeit bis hin zur Sprachinhaltsforschung des 20. Jahrhunderts« (Reichmann: 516). Woraus mit proseminaristischer Akribie ein national interpretierbares Inhalts- und Handlungsleitsystem destilliert wurde. Die dergestalt hergeleitete, nationalkulturelle Leitmotivik dieses Inhalts- und Handlungsleitsystems stellte mit all seinen Generalisierungen, Differenzierungen, sowie durch schriftsprachliche Präferenz erzeugten Beobachtungsfehlern, Konnotationen und inadäquaten Kodifizierungen sozusagen die identifikationsfähige feste Welt-Vorgabe und das vorausgesetzte Bedingungsgefüge für jede sprachlich vermittelte Kommunikation gegenwartsdeutscher Sprachteilhaber/innen dar. Eine leichtfüßig propagierte Hypothese war durch viele Wiederholungen zur Quasi-Tatsache idealistischer, sprachphilosophischer Tradition geworden. Ebenso war sie die Voraussetzung »für Speicherung, Weitergabe von Kenntnissen sowie für nationales Handeln« und band die Sprachbenutzer/innen, »vor allem die Lernenden, an das kognitive Systemmuster oder ›Weltbild‹ der Sprache« mit dem Argumentationsziel »Determination der Kulturnation als Staatsnation« (Reichmann: 517). Durch Homogenisierung und Reduktion realer Komplexitäten wurde ein den humankommunikativen Empirien enthobener, fiktiv verdinglichter Gegenstand geschaffen, eine verhängnisvolle Realitätskonstruktion. Demgegenüber veranschlagen wir die inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen einigen Subsystemen des Gesamtsystems Deutsch geringer als die inhaltlich-referenziellen Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten (z.B. fachsprachlichen) Subsystemen des Deutschen mit einigen Subsystemen anderer global agierender, europäischer Sprachen und mit dem ersten, nicht makellosen aber freien, medientechnologisch optimierten, transnationalen Makro-System untereinander weltweit verbundener Endgeräte, Mediendienstangebote, Netzwerke und Web-Browser, sowohl in Alltagsgesprächen wie in fachsprachlicher und transfersprachlicher Hinsicht. Die kognitive Leistung wird damit nicht einfach aus den Staatsvölkern und Volksgruppen [mittellat.: naciones] herausgenommen, sondern auf den Repräsentationsniveaus dieses lebendigen, produktiven wie reproduktiven transnationalen Aprioris der gegenwartsdeutschen Kommunikationsgemeinschaft ständig neu zur Diskussion gestellt. Deren Leitfunktionsvarietät, überwiegend in Gestalt plurizentrischer Hypoform und viel weniger als vorbildliche kanonische Form, muss sich täglich neu behaupten, beweisen, konfigurieren, reproduzieren und respezifizieren. Was sich in den Manifestationsformen des transnationalen Gegenwartsdeutsch erfolgreich implementiert und im Usus durchsetzt, ist die Norm, wozu es keiner Kommission oder Sprachpolizei bedarf.

Web, Wissenschaftskommunikation und Hypoform

Die sprachlich-öffentliche Symbolkommunikation wurde seit den 1990ern von Web-Sprachen-Nutzern umstrukturiert und in ihren Wandlungstendenzen beschleunigt. Was zu einer Erosion der areallinguistisch tradierten Öffentlichkeitsvorstellungen führte. Die virtuelle und die wirkliche Welt wurde medienrhetorischer (Nickl 2007; 2011: 279-324). Zur vernünftigen Einschätzung der Kommunikations- und Sprachwirklichkeit gehören gesicherte Kenntnisse über die Verteilung der überwiegend gesprochenen Sprachen der Erde und verlässliche Informationen über die tatsächliche, aktuelle, weltweite Sprachverwendung von Internetnutzern wie Social Media Akteuren und Rezipienten zunächst nach ihren Primärsprachen/Muttersprachen. Wenn auch die Grundgesamtheit deutscher Muttersprachler mit ca. 96 oder 98 Mill. retardierend bzw. leicht rückläufig, dennoch zu knapp angesetzt sein mag (siehe de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Sprache), behauptet das digitalisierte, internationale Contemporary German/Standard German/Transnational German/Global German, einen (noch) mittleren Platz auf der Top-Ten-Skala der Internetsprachen, d.h. im modernen, technologisch aktuellen webdemokratischen Leitmedium. Angesichts über 6900 natürlicher Sprachen keine Selbstverständlichkeit. Deutsche Publikationen werden weltweit von einem wohl relevanten, aber kaum konkret zu beziffernden Teil der Scientific Community rezipiert. In München wurde Deutsch als Wissenschaftssprache bereits seit Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759 »zu Nutz und Ehr« von Kurfürst Maximilian III. Joseph verwendet. Heute ist Deutsch als Wissenschaftssprache wiederum eine Minderheitensprache. Wie zahlreiche Autoren zurecht monieren, steht die Selbstbehauptung des Gegenwartsdeutschen in den Wissenschaften zur Debatte, neben der Konkurrenzfähigkeit deutschsprachiger Wissenschaftler. Mit Blick auf das in der Wortbildung fachsprachlich romanisierte und gräzisierte, äußerst flexible, angloamerikanische English als wortschatzreichste Welt-Wissenschaftssprache und Missionssprache der Western Education geht es unter dem Etikett ›Globalisierung‹ zwar nicht explizit um die exklusive Hegemonie des Supernationalstaats USA, wohl aber um eine kritikwürdige, sprachpolitische Hegemonie innerhalb des weltweiten Hochschul- und Wissenschaftsbetriebs. Einerseits ein manifestes Ergebnis beider Weltkriege, andererseits ein Ergebnis kulturimperialer bis kolonialistischer Machtdurchsetzung. Seit der Nachkriegszeit gibt es keine wissenschaftssprachpolitische Entscheidungssituation mit einer nennenswerten Wahlfreiheit mehr. Diese Wissenschaftssprachsituation hat Reservat-Charakter, nicht nur exklusiv fürs Gegenwartsdeutsche.

Kodifizierungsfragen des muttersprachlichen, zweit- und drittsprachlichen Gegenwartsdeutsch können wir hier nur streifen. Seit dem »Orthographischen Wörterbuch der deutschen Sprache« von Konrad Duden (1880) sind der deutschen Regelungswut in Sachen Rechtschreibreform kaum Grenzen gesetzt. Die 25. Auflage des Rechtschreib-Dudens ist 2009 erschienen, die 26. Mitte 2013. Durchschnittlich alle fünf Jahre neue Orthographie-Konventionen, meist philologisch, manchmal etwas sprachpragmatisch, meist schulmeisterlich, hauptsächlich aber normativ-präskriptiv indoktrinierend und fraglos merkantil motiviert. Gegenwartsdeutsche Mischgrammatiken und Stilwörterbücher sind weitere Gebiete der Auseinandersetzung über normative Geltungsfragen. Etappen der Aussprachenormierung sind seit 1898 »theatermäßig« fixiert (›Siebs‹). Und erst seit der 15. Auflage des ›Siebs‹ (1930: 12 f.) wenigstens teilweise auf affektneutrale, »ruhige und verstandesmäßige«, sowie auf affektive hochsprachliche Rede außerhalb des Bühnendeutsch und der Normierung des Versdramas ausgerichtet. Etwa seit Mitte der 1960er Jahre beansprucht die im Hörfunk gepflegte Aussprache eine gewisse Geltung (WDA 1964; Krech 2009). Mit dem 1969er ›Siebs‹ erfolgte zwar die Abwendung von der bühnendeutschen Ausrichtung durch die sogenannte ›reine und gemäßigte Hochlautung‹, aber viel zu einseitig minimalsegmentbezogen, silbenphonetisch und wortphonetisch-kontextfrei fehlkonzipiert, nicht etwa an zusammenhängender Rede, Sprechtakten und makrosegmentalen Phrasierungseinheiten ausgerichtet. Gesprochene deutsche Gegenwartssprache, ›unsaubere langue‹, wurde noch in der philologisch dominierten, deutschsprachigen Staatsbeamtenwelt der 1970er Jahre keineswegs generell als seriöser Forschungs- und Normierungsgegenstand akzeptiert. Mit dem digitalisierten, globalen Gegenwartsdeutsch großer Web-Reichweiten ist jedoch eine unübersichtlich komplexe, heterogene, medienkulturell vermittelte, prozessuale Netzstruktur der translokalen und transnationalen Sprachkommunikationsgemeinschaft entstanden, die doktrinäre Top-down-Vorgaben zur, wie es selbstdarstellend online heißt: »maßgeblichen Instanz für alle Fragen zur deutschen Sprache und Rechtschreibung« (DUDEN »über Duden«, www.duden.de/ueber_duden), nicht mehr blanko akzeptiert. Zwar tauschen sich die Kommunikationspartner nach wie vor auch textpublizistisch und textgrammatisch mit symbolsprachlich alphabetisierten, verschriftlichten Mitteln und Darstellungsmischformen aus und pendeln dabei oszillierende Gebrauchsnormen ein. Der etwa hundert Jahre bewusst derangierte Stellenwert audiovisueller gegenwartsdeutscher Gesprächsrhetorik tritt mittlerweile gleichgewichtig neben Schriftdeutsch und Schreibunterricht hervor. Die prinzipiell beliebig reproduzierbaren Ausgangsdaten des Global German stellen zum beträchtlichen Teil eine medien- und webvermittelte Kultur der gesprochenen Sprache dar. Die 7. Auflage der Duden-Grammatik enthält erstmals ein Schlusskapitel über »Gesprochene Sprache«: 2005. In der 8. Auflage der Duden-Gebrauchsgrammatik wurden Vertonungen (Audiodateien) zu den Buchkapiteln »Intonation« und »Gesprochene Sprache« online angeboten: 2009. Geltungsfragen der deutschsprachigen Orthoepie werden angesichts der muttersprachlichen und fremdsprachlichen Ungleichheiten strukturell bedingter ethnischer Schichtungen und sozialer Distanzen künftig in den Vordergrund treten, ebenso in der Lehrvermittlung interkultureller Kommunikation. Normative Zuordnungen und Messbarkeitsfragen makrosegmentaler sprechsprachlicher und rhetorischer Phrasierungseinheiten dürften bei der Respezifikation von Argumentations- und Sinnzusammenhängen eine weitaus wichtigere Rolle spielen als Minimalereignisphonetik, Silbenphonetik oder kontextisolierte Wortphonetik. Prosodische Toleranzbreiten verwendeter Sprachstile und Sprechstile werden sich in der künftigen globalen Leitvarietät des Gegenwartsdeutschen gleichermaßen selbstregulativ einpendeln.

1. Weniger in der aufwändig kodifizierten kanonischen Form, mehr in der Hypoform und mit den Funktionen transfersprachlicher Kommunikation spielt das Gegenwartsdeutsche eine erwähnenswerte und respektable Rolle im globalen Konzert der Sprachkommunikation: face-to-face interpersonal, als Transmissionsriemen in den Social Media, als spezielle Lingua franca, sowie als Zweit- und Drittsprache. Es geht nicht um die Ausdifferenzierung einer musealen Nationalphilologie. Als standardisierungsfreundliches wie normativ-liberalisierungsfähiges und adaptives Selbstregulierungssystem lässt sich das Gegenwartsdeutsche hinsichtlich wissenschaftlicher Methodenanwendung, beobachtbarer und bearbeitbarer Daten-Corpora interdisziplinär passend in den Kommunikations-, Sprach- und Sozialwissenschaften, oder den Behavioral Sciences, angesichts des experimentellen, noninvasiven, technologischen Methoden-Fortschritts auch in den Humanwissenschaften und nicht zuletzt nahe bei den Wirtschaftswissenschaften verankern. Die typisch mitteleuropäisch bedingte, prärogative Situierung im Rahmen deskriptiver Philologien ist nicht zwingend. Gerade dies könnte es Hochschulen und Universitäten in Übersee erleichtern, transnationales Deutsch mit moderater Normierung interfachlich zu inkorporieren, angemessen zu situieren und zu pflegen, besagt: das Gegenwartsdeutsche als Global German in ausgewählten Hypoformen, was in Kompetenz und Performanz leichter zu meistern ist und mit den erprobten, plausiblen Goethe-Zertifikatsniveaustufen für berufliches Deutsch (B2-Bereiche), C1, für Wirtschaftsdeutsch (PWD) und TestDaF kompatibel erscheint.

2. Vorausgesetzt, das globale, medienvermittelte Gegenwartsdeutsch wird die künftige, eklektisch komponierte Hypoform-Leitvarietät der deutschen Gegenwartssprache, dann wird es nicht mehr mit ›Central European Standard German‹ identisch sein. Die primär- wie transfersprachliche Gestalt dieses globalen Gegenwartsdeutschen wird dezentral und in globaler Modulationsbreite plurizentrisch uneinheitlich konstituiert sein. Bedeutet, deren normative Geltung wird langfristig nicht exklusiv in Zentraleuropa bestimmt. Wissenschaftliche Sprachpflege und Verbesserung der Sprachkultur des globalen Gegenwartsdeutsch findet von Adelaide über Barnaul, Kiew, Osaka, Philadelphia bis Windhuk statt, nicht nur im Dreieck Berlin-Wien-Zürich. Und Dudenredaktionen bleiben wohl auch künftig diskussionsstarke und einflussreiche Drehscheiben. Transnationales Gegenwartsdeutsch als flexibel angepasste Zweit- und Drittsprache und als Lingua franca bzw. Transfersprache in Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft und Tourismus zu fördern, allerdings in Morphologie und Syntax komplexitätsreduziert und mit merklich bis drastisch abgespeckter, orthografischer Normierung. Zu erwarten ist eine websprachlich sich deregulierende, vereinfachte Schreibkonvention; daneben medien- und darstellungsformbezogene, partnerversammlungsgerechte Nutzung und repressionsfreie Wahlfreiheit zwischen alternativen, verständlichen, zumutbaren Rechtschreibvarianten (Rechtschreibungsderivate). Und nach wie vor attraktive kreative Wortbildung, die freieste Veranstaltung im Deutschen. Dieses orthografisch-lexikalisch wie orthoepisch-prosodisch moderate Szenarium mit pluralistischer Kodifizierung, effektiv ausgemittelter Phonostilistik und Norm-Toleranzbreite dürfte für das transnationale Gegenwartsdeutsch aussichtsreich sein.

3. Die Prognose für eine oberflächenlinguistisch hyperoptimierte, graphematisch verkomplizierte, teils gegen den Usus (ohne ausreichende Testphasen und empirisch bewertungsfähige Trial-and-Error-Erfahrungen) schulmeisterlich überkodifizierte und wenig liberalisierungsfähige Muttersprache mit unnötigen Komplexitätsschranken dürfte ungünstiger ausfallen. Das 1998er Rechtschreibregelwerk des Gegenwartsdeutschen samt Änderungskatalog von 2006, wie von der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen, mag mit dem nötigen Ressourcen-Aufwand in mitteleuropäischen Amtsstuben und Schulen und bei den überwiegend regierungsabhängigen, ausländischen deutschen Kultur-Institutionen repressionsverdächtig durchgesetzt werden, nicht zuletzt zur Freude des Printmedien- und Verlagswesens. Orthografie ist ein Kommunikationsvehikel, eine mehr oder weniger benutzerfreundliche Kulturtechnik, keine Wissenschaft. Orthografie sollte von der Modulationsbreite des Sprachgebrauchs und dessen objektivierbarem Gemeinsamkeitsminimum, von möglichst einfachen und sich selber ausmittelnden Kommunikationsgepflogenheiten, vom Medien- und Web-Usus bestimmt und hergeleitet sein. Beim Sprechen, Lesen und Schreiben kommt es auf den Usus an. Das 1998er Rechtschreibregelwerk samt Upgrade-Version 2006 stellt einen weiteren Pyrrhussieg der Bürokraten dar. Ist nicht mit linguistischem Fortschritt zu verwechseln.

4. Die feministisch überzogene Politisierung und überflüssige Zusatz-Normierung des Sprachgebrauchs mit abschreckender Morphologie (Substantivsuffix-Verkomplizierung, Flexionsendungspräzisie- rung) seit den 1980er Jahren, die in der gesellschaftskritischen Diskussion inzwischen ausgeblendet, wenn nicht einfach tabuisiert wird, hat das Erlernen der deutschen Gegenwartssprache objektiv erschwert, nicht zuletzt für Ausländer. Eine Aufklärungskampagne zur Unterscheidung von biologischem und grammatischem Genus wäre ausreichend, angemessener und wesentlich billiger gewesen. Deutschsprachige Landtage, obendrein der Bundestag, brachten delikate Sprachregelungen zur Gleichbehandlung der Geschlechter (Stickel 1988) zustande, dergestalt, dass die Sexus-Unterscheidung als grundlegendes rechtliches Wahrnehmungskriterium in Bundes- und Landesgesetzen sowie in Unmengen von Verwaltungstexten festgeschrieben worden ist: ein Bärendienst, eine absurde Verschlimmbesserung des Gegenwartsdeutsch.

5. Das überkodifizierte Gegenwartsdeutsch als kanonischer Soziolekt administrativer und literatursprachlicher Funktionseliten wird permanent um Besitzstandssicherung kämpfen müssen. Mehr Hypoform, weniger kanonische Form und viel weniger beamtenlinguistische Lust an Top-down-Kontrolle und präskriptiver Hyper-Regulierung fürs flexible, polyzentrische Gegenwartsdeutsche, das ist aussichtsreicher. Die transnational-transversale Leitvarietät des Gegenwartsdeutschen werden Hypoformen bilden. Kaspar von Stieler († 1707) hätte diese flexible Realisationsform des Kultur- und Volksgruppen-Nationen und Territorien übergreifenden Gegenwartsdeutschen höchstwahrscheinlich als Neue hochteutsche Reichssprache bezeichnet.

Literatur

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