Reinhard Düßel
______________

Davonkommen


Herrlich weit haben wir es nicht gebracht, weit aber schon. Immerhin hätten es andere auch gerne so. Küstenwachen und Aufgreifer von Illegalen wären sonst weniger beschäftigt. Besser soll es dennoch werden. Offenbar wollen wir, allesamt, oder fast alle, irgendwo hin.
Ein Tag wie andere auf den Kanarischen Inseln. Ein Boot der Küstenwache fährt in den Hafen. In Decken gehüllte Menschen gehen von Bord, geleitet von denen, die sie aufgefischt haben. Vom Badestrand her, weniger als hundert Meter entfernt, sehen Urlauber zu, einige damit beschäftigt, Schutzmittel gegen Sonnenbrand aufzutragen. Die Sonne, wie man weiß, sticht gefährlicher als ehedem. Die in den Decken verschwinden in einem Zelt. Einer der Letzten bleibt vor dem Hineingehen stehen, dreht sich um, schaut zum Badestrand hinüber. Ein junger Mann, wie fast alle. Nennen wir ihn Jussuf.
Am anderen Ende des Badestrandes, hinter ein paar Sandhügeln, die Beine von sich gespreizt, den Ellenbogen gespannt, setzt sich einer die Nadel.

Wohin also? Eint die Drei da etwas und uns mit ihnen? Alle hätten wir schon gern, dass es mit dem Davonkommen noch eine Weile weiterginge. Davongekommene sind wir alle. Das wenigstens ist uns gemeinsam, denen gegenüber, die es nicht mehr geschafft haben.
Ist da noch etwas? Auf jeden Fall ist da immer das Nächste, das Einölen der Zehen, die Suppe im Zelt. Kommt etwas dazwischen, so wird daraus etwas Anderes. Das macht dann etwas, mehr oder weniger, oder es macht überhaupt nichts. Vielleicht bleibt der kleine Zeh ein wenig länger ungeölt. Ist der Suppentopf leer, bevor alle haben, knurrt einigen der Magen ein wenig länger. Es hätte schlimmer kommen können. Viele werden nicht aufgefischt.
Angst hatte er schon, da in seinem Boot. Vorher allerdings auch, immer eigentlich. Er hätte sich sonst nicht auf den Weg gemacht. Freilich war diese Angst nichts Besonderes. Angst, die etwas Besonderes ist, gehört zu der Welt, in die Jussuf sich aufgemacht hat.

Das Nächste also. Was passiert, wenn es gelingt, oder eben nicht, unterscheidet Welten. In der einen geht es, wenn das Nächste misslingt, mit dem Davonkommen dennoch weiter, in der anderen dagegen nicht. Irgendwann einmal geraten wir in die alle hinein. Eben deshalb wollen wir bei jedem Arztbesuch zuerst wissen, ob es etwas Ernstes sei. Sind wir hineingeraten, in diese letzte Welt, so wollen wir einfach nur wieder heraus.
Manche begeben sich auch selber hinein. Die gab und gibt es immer. Allerdings ist, beispielsweise, nicht ausgemacht, ob die Welt in der Steilwand, in der das Einschlagen eines jeden Hakens gelingen muss, tatsächlich die gleiche ist wie die eines Patienten vor der entscheidenden Behandlung. Hier wie dort geht es beim Nächsten direkt ums Davonkommen. Die Erwartung, dass es noch ein wenig weitergehe, läuft nicht einfach nur mit. Das Weitergehen hängt vom Gelingen oder Misslingen des Nächsten ab, wird von diesem bewerkstelligt oder eben nicht. In dieser letzten Welt ist man hier wie dort. Es könnte aber sein, dass es deren viele gibt und zwischen ihnen wiederum allerlei unterschiedlich geschachtelte Unterschiede.
   
Alle wollen wir da heraus. Was das Nächste auch sei und wie ernst wir es auch nehmen, so ganz ernst soll es damit nicht sein. Immer soll es, wenn etwas misslingt, einen zweiten Versuch geben, und möglichst auch einen dritten, und mehr. Da also wollen wir hin.
Das Nächste soll überhaupt möglichst wenig mit dem direkten Hervorbringen des Davonkommens zu tun haben. Wenn wir sagen, wir hätten endlich Arbeit gefunden, die uns vor dem Verhungern bewahre,  so wollen wir dies ironisch meinen können. Es soll immer nur indirekt und möglichst spät wirklich ernst sein und werden, es sei denn in einer gartenartigen, von uns gleichsam selber angebauten Form, so wie etwa in der Steilwand.

*

Da ist aber der mit der Nadel. Wohin denn will er? Auch für ihn gibt es, solange es eben da ist, immer ein Nächstes. Was einfach nur da ist und ansteht, ist ihm aber vor allem im Wege. Er will Eines und das immer wieder. Das Nächste, sofern es nicht dieses Eine ist, schaufelt er beiseite. Man kann auch sagen, er schaufle es zu und planiere es platt, bis ein Weg zu dem Einen hin daraus wird. Bald gibt es dann überhaupt nur noch das Plattgewalzte und das Eine, das ihn allerdings nach kurzem Aufenthalt immer wieder auf den Weg schickt.
Das Gehirn, so Robert L. Dupont, sei egoistisch. Was es wolle, das wolle es eben. Nicht von allem wolle es immer mehr. Für Vieles gebe es Sperren. Davon habe es dann eine Zeitlang genug. Auf Direktes, wie sollte es auch, da drinnen in seinem Knochengehäuse, ist das Gehirn aber nicht zur Sperrung vorbereitet. Erzeugt etwas, ohne Bezug auf Anderes, an den das Gehirn dann beim Aufbau der Sperre anknüpfen könnte, Freude, Zufriedenheit, Lust, so gibt es kein Halten.
Dupont wartet mit Ratten und Affen auf. Weder Leckerbissen noch andere Verführungen der Rattenwelt können Ratten zum Überqueren elektrisch geladener Drähte bewegen. Lockt aber eine direkte Stimulation des Lustzentrums, so eilen sie über die Drähte. In einem anderen Experiment setzten Affen Aktivitäten, für die sie mit einer direkten Stimulation des Lustzentrums belohnt wurden, auch dann fort, wenn sie damit dem Herzschlag nahe kamen und diesen schließlich herbeiführten.

Die meisten, wenn nicht alle Kulturen, wussten sich psychoaktiver Substanzen zu bemächtigen. Den mit der Nadel gab es in vormodernen Gesellschaften dennoch nicht, und dies nicht nur deshalb, weil die hypodermische Nadel erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde.
Soweit man dies wissen kann, fanden direkte Stimulationen der Lustzentren in vormodernen Gesellschaften nur eingebettet in genau definierte soziale Praktiken statt. Sie waren sozial gesteuert und nicht individuell. Tabak produziert den Nikotinkick unabhängig davon, ob man eine Zigarette anzündet oder die Friedenspfeife. Dennoch waren die nordamerikanischen Indianer keine Raucher im Sinne der heute geläufigen Selbstbeschreibung, so wie der Schluck Wein bei der Eucharistiefeier die Beteiligten nicht, wiederum im Sinne der heute geläufigen Selbstbeschreibung, zu Trinkern macht. Höchst beschränkt war die Verwendung psychoaktiver Substanzen in vormodernen Gesellschaften auch deshalb, weil nur geringe Mengen verfügbar waren. Die soziale Rundumkontrolle der dörflichen Lebensgestaltung wird darüber hinaus dafür gesorgt haben, dass der entbettete Genuss unterblieb. Dupont spricht vom Goldenen Zeitalter des Drogengebrauchs.

Seit dem Zeitalter, das man noch immer das der Entdeckungen nennt, wurden psychoaktive Substanzen bevorzugte Güter des Welthandels. Der löste sie aus ihren Einbettungen heraus und verbreitete sie überall dort, wo sich ein Markt fand. Durch und für den Konsum der so erst entstandenen Genussmittel formten sich zwar quasi-rituelle Einbettungen eigener Art, deren bindende Kraft aber blieb vergleichsweise gering. Der Konsum blieb immer auch außerhalb ihrer möglich und akzeptiert.
Der Herauslösung der Substanzen aus rituellen und anderen Einbettungen entspricht die des Konsumenten aus der vorwiegend sozial gesteuerten Lebensgestaltung. Urbanisiert und zum Sucher nach dem persönlich erfüllten Leben geworden, sichtet er Möglichkeiten und Angebote. Von vielen Seite her drängt man danach, ihm dabei behilflich zu sein, und dies zunehmend unter dem Leitthema individualisierten Genusses. Wo sich alles als Genussmittel anbietet, steht der direkte Kick als Paradigma der Einlösung eines Versprechens in einer lügenhaften Welt. Aus dem Goldenen Zeitalter des Drogengebrauchs ist das des Drogengeschäfts geworden.

*

Wohin der mit der Nadel will, wissen wir damit noch nicht. Er wird auf jeden Fall dahin wollen oder gewollt haben, wohin wir alle wollen. Da muss er aber, anders als Jussuf draußen in seinem Boot, schon sein. Hätte er von Augenblick zu Augenblick sein Davonkommen zu erhalten oder immer wieder hervorzubringen, so wäre es mit ihm längst vorbei. Das Davonkommen ist ihm also wohl nicht genug.
   
Ist das je und je Nächste der Ernstfall, so kann es zu so einem Wollen gar nicht erst kommen. Gelingt dagegen der Aufschub, öffnet sich der Spielraum, wird es erst beim Übernächsten ernst oder rückt das Ernstwerden gar noch weiter ab, so ist die Gewissheit da, einem Zugriff zu unterliegen, dem nämlich des Arbiträren.
Sie treibt im Kreis, diese Gewissheit. Alles hätte auch anders sein können, mit dem Davonkommen, doch es ist wie es ist. Wir sehen uns im Genuss einer Präferenz, die nicht sein kann, weil das Arbiträre nicht das Arbiträre wäre, wenn es Präferenzen hätte. Im Genuss einer Präferenz sehen wir uns dennoch, und wir hätten gern, dass sie dauert. Damit aber haben wir schon damit begonnen, ob wir dies wollen oder nicht, uns zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, oder dieses wenigstens zu versuchen.
Das also wollen wir mehr. Gelingt auch nur ein minimaler Schritt der Entwicklung in die Richtung, in die wir alle wollen, so wollen wir immer auch dieses Zweite.

Wenn alle es wollen und gewollt haben, so kann es nichts sein, das sich, um uns herum und in der Geschichte, versteckt hält. Das Bemühen darum und dessen Spuren müssen weithin offenbar sein in dem was war und ist.
Ins Verhältnis setzen kann man sich durch Handlungen, durch Diskurse und durch das Herbeiführen von Erfahrungen. Handelnd setzen wir uns ins Verhältnis, indem wir uns dem Rhythmus dessen, wozu wir uns ins Verhältnis setzen wollen, mehr oder weniger anmessen. Messen wir uns gänzlich an, so handeln wir in seinem Bann. Messen wir uns nur minimal an, so drängen wir darauf, dass es sich uns füge. Im Spektrum des Mehr oder Weniger dazwischen kommt es zu Handlungen, die es ohne das Verhältnis, in das wir uns gebracht haben, nicht gegeben hätte. Neues entsteht of so.
Das Arbiträre hat keinen Rhythmus, dem wir uns anmessen könnten. Es ist, sofern wir es als etwas nehmen, dessen Rhythmus wir uns anmessen können, nicht mehr das Arbiträre. Handelnd können wir uns zu diesem nur ins Verhältnis setzen, indem wir uns dem nicht Anmessbaren anmessen, unsere Handlungen also zu einem nicht Anmessbaren machen. Nicht anmessbare Handlungen kann man auch als unsinnig – oder eben arbiträr – charakterisieren.
Handelnd also setzen wir uns zum Arbiträren in Beziehung, indem wir unsinnig handeln, und dies nicht beiläufig, als sei uns ein Lapsus unterlaufen, sondern ausdrücklich, nach Möglichkeit sogar mit der Ausdrücklichkeit einer Institution.

Ernstfälle, die nie ganz fern sind, sind Hunger und Durst. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto weniger sicher konnte man sein, ob einer von ihnen  nicht schon ganz nah sei. Das bewusste, geplante und ausdrücklich zelebrierte Verbrennen von Lebensmitteln oder auch Verschütten von Getränken wird man deshalb als eine in höchstem Maße unsinnige Handlung ansehen müssen. In nahezu jeder Kultur aber gab es eigens dafür eingerichtete Bezirke und Orte, an denen Personen, die ein hohes Ansehen genossen, dieses vollzogen. Es sind die Orte, die wir besuchen und studieren, wenn wir uns mit der betreffenden Kultur vertraut machen wollen. Wir sehen sie, und sicherlich zu recht, als Zentren an, die Aufschluss über die Eigenart der betreffenden Kultur geben.
Diskursiv setzen wir uns ins Verhältnis, indem wir über etwas sprechen oder mit ihm. Man kann vielerlei Theorien darüber entwickeln, was dies genauer heißt. In jedem Falle aber wird es zwischen unserer Rede und dem, worüber wir reden, ein Verhältnis geben müssen, das nicht arbiträr ist. Wollen wir mit jemandem sprechen oder ihn ansprechen, so gilt das ebenso. Zum Arbiträren aber kann es kein nicht-arbiträres Verhältnis geben. Sobald wir sagen, es sei so und so, oder nach diesen oder jenen Regeln mit ihm sprechen, reden wir von oder mit etwas anderem. Diskursiv können wir uns also zum Arbiträren nur ins Verhältnis setzen, sofern unsere Rede jedes nicht-arbiträre Verhältnis zu dem, worauf sie sich bezieht, vermeidet. Der Begriff des Unsinns wird wohl auch hier angebracht sein. Handelnd also setzen wir uns zum Arbiträren ins Verhältnis, indem wir unsinnig handeln, diskursiv, indem wir Unsinn reden.

Ist Unsinn nicht immer einfach nur Unsinn? Man kennt die Frage, beispielsweise, aus den neuerdings wieder belebten Debatten über den ersten Wittgenstein. Ist der Text des Tractatus, wenn er denn, wie Wittgenstein am Ende sagt, Unsinn redet, unsinnig im gleichen Sinne wie etwa ein Daherplappern beliebiger Lautfolgen? Eine entsprechende Frage wird auch bezogen auf den institutionalisierten Unsinn zu stellen sein, mit dem man nahezu seit Anbeginn der Geschichte versuchte, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen.
Mehr noch als rückblickende Beobachter bewegte diese Frage wohl die Beteiligten selber. Blanker Unsinn, sofern wir denn an dieser Unterscheidung festhalten, wird sicherlich auch ihnen vertraut gewesen sein. Wie sollte jener andere Unsinn, Handlungen also, die der schlichtesten Alltagsvernunft widersprechen, Sätze und Texte, die weder von Dingen noch von Sachverhalten reden, auf die man je gestoßen wäre, sich von diesem unterscheiden?
Gefordert ist eine Auszeichnung oder Ergänzung, etwas, das hier da ist und dort nicht. Möglich wurde dies durch die dritte Option, nach der wir uns zu etwas ins Verhältnis setzen können, durch das Herbeiführen also einer Erfahrung.

Die Rede war von einer Präferenz, derer wir uns erfreuen, obgleich sie nicht sein kann, denn das Arbiträre kann keine Präferenzen haben. Dies eben ist die Weise, in der wir den Zugriff des Arbiträren, und mithin dieses, erfahren. Da wir die Präferenz des Arbiträren aber als etwas erfahren, das nicht sein kann, erfahren wir es dabei als ein unablässig Entgleitendes. Die Herbeiführung einer Erfahrung wäre hier also genauer deren Festigung und Affirmation.
Die direkte Stimulation eines Lustzentrums durch psychoaktive Substanzen erzeugt Freude, Glück, Zufriedenheit die an nichts geknüpft und mit nichts verknüpft sind. Dies eben meint direkte Stimulation. Erfahren wird eine Belohnung, der nichts vorausgeht, woraus sie sich ergäbe, eine Auszeichnung, die für nichts auszeichnet, eine Unterscheidung vom nicht Ausgezeichneten, die auch nicht sein könnte. Erfahren also wird arbiträre Präferenz, hier aber als Herbeigeführtes. Die Einbettung des Gebrauchs psychoaktiver Substanzen markiert den Unterschied des Unsinnigen, in das er eingebettet ist, zum blanken Unsinn.
   
*

Wer Nahrungsmittel vernichtet, bekundet damit, mehr davon zu haben als zur Erhaltung des Davonkommens benötigt wird. Die einen haben mehr, die anderen haben so wenig, dass sie es mit dem Davonkommen nicht mehr schaffen. Zwischen der Präferenz, so wie sie da ist, und denen, die sie erfahren, oder eben nicht, ist keinerlei Verhältnis der Anmessung erkennbar. Die es nicht mehr geschafft haben, können nichts bekunden. Jede Bekundung der Erfahrung arbiträrer Präferenz hat damit letztendlich doch etwas schulterklopfend Komplizenhaftes.
Die Vernichtung von Nahrungsmitteln ist so ein Schulterklopfen. Sie ist es wirklich und hat deshalb auch jene andere Seite, die zu jedem Schulterklopfen unter Komplizen gehört. Warte nur ein wenig, so sagt es immer auch, dann bin ich weit genug, um dir an die Gurgel zu gehen.

Man kann, was heute nicht benötigt wird, institutionalisiert oder anderweitig vernichten. Man kann es auch für morgen und übermorgen beiseite legen. Reicht es für beides, so ist es am besten. Der institutionelle Unsinn des Vernichtens kommt nicht zu kurz. Die Kontinuität der irgendwann einmal etablierten Weise, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, wird nicht unterbrochen.
Ist für morgen und übermorgen schon vorgesorgt, so wird der Zugriff des Arbiträren weniger rigide oder wenigstens als weniger rigide erfahren. Er bewegt sich aus dem Normalen hinaus an die Ränder und verwandelt sich dort eher in ein Schlagen, mit dem zwar immer zu rechnen ist, das aber auch ausbleiben kann. An die Stelle des andauernden Würgegriffs treten intermittierende Schläge des Schicksals, wie man dann sagt.   
So richtig an die Gurgel geht es dem Arbiträren aber erst, wenn man es beim Beiseitelegen nicht mehr belässt, sondern mit Hilfe des Angesammelten dafür sorgt, dass mehr einkommt. Dies macht Appetit. Je mehr einkommt, desto mehr soll dann einkommen. Es ist der Appetit, den wir alle teilen, weniger einer nach als vielmehr gegen etwas, gegen die Nähe des Ernstfalls eben.

Eine Art Schulterklopfen muss auch nach der Erfindung der Unterscheidung zwischen einer Normallage und dem hin und wieder auf diese einhauenden Schlag des Arbiträren weitergehen. Zwar lässt sich der Ernstfall durch die Ansammlung von Gütern und Arrangements, durch welche diese sich nicht nur vermehren, sondern auch in ihrer hinausschiebenden Qualität steigern, in weite Ferne rücken, dieses Hinausschieben berührt die immer gleiche Nähe der Grenze der Normallage aber nicht.
Die institutionelle Stabilität sozialer Gebilde, so wie wir sie aus der Geschichte kennen, basiert gemeinhin auf einer Fortentwicklung des Komplizenhaften zum Janus. Es ist allerdings ein verschobener. Die beiden Gesichter blicken nicht nach verschiedenen Seiten. Übereinander gedreht und das eine durch das andere hindurchblickend, wenden beide sich dem Arbiträren zu, das eine mit wild zurückdrängendem Blick, das andere subaltern lächelnd.

*

Ist Gebautes zerfallen, so sagen wir, kein Stein sei auf dem anderen geblieben. Wir bauen, umgekehrt, indem wir einen Stein auf oder an den anderen setzen. Statt eines Steines kann es auch etwas anderes sein. Wichtig ist, dass etwas als Nächstes auf oder an ein Vorhergehendes gefügt wird, und dann so weiter.

Auf das So dieses Weiter kommt es an. Dieses darf nicht einfach nur ein Weiter sein. Es muss mit dem Vorherigen etwas zu tun haben, an dieses so oder so anschließen, wobei das So-oder-So aber ein So-und-nicht-Anders sein muss. Anders als das So, mit dem das Vorherige an sei Vorheriges angeschlossen wurde, kann es wohl sein. Es muss da nichts fortsetzen oder wiederholen. So und nicht anders heißt also nicht, dass vorher schon entschieden wäre, welches das Passende und Rechte sei und welches nicht. Auch ein neues Ansetzen, das vom Bisherigen drastisch abweicht, ist ein So- und-nicht-Anders. Der Gegensatz, gegen den das So sich stellt, ist primär nicht ein Anderes, sondern Beliebigkeit, bloß Zufallendes. So und nicht anders meint vor allem Ausdrücklichkeit, ausdrücklich so.
Die Ausdrücklichkeit dieses So wird sich dabei, vor anderen und vor allem vor sich selber, auf dies und das berufen. Sie wird Rechenschaft ablegen, weshalb es so zu sein habe und nicht anders. Die kann mehr oder weniger ausdrücklich und durchartikuliert sein. Diese andere Ausdrücklichkeit ist mit der, welche Rechenschaft ablegt, nicht zu verwechseln. Die lässt, streng genommen, keine Gradierung zu. Hier gibt es nur Ausdrücklichkeit oder deren Fehlen: Beliebigkeit. Ausdrücklichkeit meint hier also ein Ausdrücken, das Beliebigkeit ausschließt. Dies muss nicht durch Worte geschehen. Rechenschaft dagegen ist diskursiv. Eine aus der Geschichte der Philosophie geläufige Unterscheidung der Rechenschaft, die gegeben wird, wäre etwa die zwischen der Rechenschaft des Erfahrenen und der des Techniten, von der Aristoteles am Anfang der Metaphysik handelt. Was als Rechenschaft gilt und weshalb, ist eine Frage, die mit der Ausdrücklichkeit des So im So-und-nicht-Anders des Bauens eröffnet wird. Die geht ihr voraus. Die Zurückweisung der Beliebigkeit, die sie ist, ist Zurückweisung des Arbiträren.

Bauend also weisen wir den Zugriff des Arbiträren zurück, halten ihn wenigstens auf Distanz. In einer anderen Terminologie charakterisiert man dies, oder jedenfalls vieles, welches dazugehört, auch als Humanisierung von Raum und Zeit. Gebautes, seien es Verkehrswege, Gebäude, Strukturen der Produktion, der Verteilung, der Vorsorge, seien es Gefüge des Zusammenlebens überhaupt, der Konfliktregelung, der Zukunftsorientierung, wird freilich brüchig. Auch von den Rändern des Normalen her ist, wie gesagt wurde, mit dem Zugriff des Arbiträren immer zu rechnen. Vor allem aber vergönnt uns die je besondere Lebensgeschichte das Weggeschobensein dieses Zugriffs nur temporär und intermittierend. Irgendwann hört jeder vom Arzt, diesmal sei es ernst.
Das Wegschieben, so wild es auch blickt, schaut doch immer durch das Schauen des anderen Gesichts hindurch, aus diesem anderen Schauen also heraus und so mit diesem immer auch ein wenig mit. Soziale Gebilde, von denen man weiß, gerade auch expandierende, geschichtsprägende, in ihrem Zurückdrängen des Arbiträren also besonders erfolgreiche, wussten auch mit dem Bröckeln alles Gebauten umzugehen. Sie hatten sich, bevor das Bauen so richtig begann, zum Arbiträren schon anders denn zurückdrängend ins Verhältnis gesetzt, womit wir wieder beim Unsinn wären, dem mehr als blanken, und dessen Institutionen. Sollen die aber dort, wo das Wegschieben misslingt oder lebensgeschichtlich überhaupt endet, verfügbar sein, so können sie, wenn das Bauen fortschreitet, nicht bleiben wie sie sind.

 *

Das Bröckeln des Gebauten, die Wiederkehr des Arbiträren, ist das Schwinden der ausweisbaren Ausdrücklichkeit, mit der das Eine so und so an das Andere anschließt. Praktiken und Diskurse, die sich von Gebautem oder sich in Gebautem Bewegenden durch das bloße Fehlen einer solchen Ausdrücklichkeit der Verknüpfung unterscheiden, werden beim Umgang mit diesem Schwinden nicht helfen. Vom Gebauten her, anders als ehedem, sind sie lediglich der vorweggenommene Fluchtpunkt seines Zerfalls.

Als es noch kein nennenswert Gebautes gab, die Geschichte zu diesem hin vielmehr erst begann, war dies anders. Die ersten Formen ausweisbar ausdrücklicher Verknüpfungen wurden wohl zusammen mit oder wenigstens parallel zu den ersten Institutionalisierungen des Unsinns geschaffen. Man kann eben Nahrungsmittel nur verbrennen, wenn man mehr davon hat als im Augenblick für das Davonkommen nötig, den Zugriff des Arbiträren also schon ein wenig weggeschoben, mithin schon gebaut hat.
Die Wege vom einen zum andern sind kurz in dieser frühen Zeit. Das Verbindende bleibt lange eine gewisse Ratlosigkeit darüber, wie von der Ausdrücklichkeit der Anknüpfungen Rechenschaft zu geben sei. Am Anfang stehen lediglich das Gelingen ausdrücklicher, nicht-arbiträrer Anknüpfungen und das Gewahrwerden ihres Unterschieds zu arbiträren. Dies zwingt, nicht zuletzt auch deshalb, um es festzuhalten, fortzusetzen, zu tradieren, zur Rechenschaft. Behilflich konnten dabei zunächst nur Diskurse des institutionalisierten Unsinns sein, denn andere Diskurse proto-abstrakter Art gab es nicht. Die Geschichten göttlicher und halbgöttlicher Kulturbringer, die uns allerlei Nützliches lehrten und brachten, gehören hierher. Die Nötigung wohl, doch mehr in concreto Rechenschaft zu geben, löst die so sich ausformenden Diskurse dann von denen des institutionalisierten Unsinns ab. So entfernen sie sich zunehmend von diesen und geraten mit ihnen auch gelegentlich in Konflikt. Vor allem aber wird es von ihnen her immer schwieriger, wenn Gebautes bröckelt oder das Zurückdrängen des Arbiträren überhaupt an eine Grenze gerät, für den Zweck an die Diskurse institutionalisierten Unsinns anzuschließen, für den diese und die ihnen entsprechenden Institutionen geschaffen wurden.
Zwei Strategien, dem so sich bildenden Reformdruck zu entsprechen, sind denkbar. Man kann versuchen, die Intensität, in der das Arbiträre zurückgedrängt wird, zu drosseln, und dies wiederum auf vielerlei Weise. Das aus Geschichte und Gegenwart wohl vertrauteste Verfahren fordert von Diskursen der Rechenschaft grundsätzlich Anschlussfähigkeit an bestimmte Institutionalisierungen des Unsinns. Gebaut, in dem Sinne, in dem hier von Bauen die Rede ist, kann dann nur werden, was diese repräsentiert, exemplifiziert, darstellt, verwirklicht oder ihnen in einem anderen Sinne entspricht. Gegenpol hierzu wäre eine Reformstrategie, die von den Institutionalisierungen des Unsinns verlangt, sich fortgesetzt so zu restrukturieren, dass Anschlussfähigkeit zu den sich von ihnen ablösenden Diskursen der Rechenschaft gewahrt bleibt. Faktisch kam und kommt es je nach Lage zu einer mehr oder weniger nach der einen oder anderen Seite hin gewichteten Konstellation aus beidem. Die Feinstruktur dieser Konstellation definiert weitgehend das je Besondere unterschiedlicher Gemeinwesen und Kulturen. Sie ist ständig in Bewegung und Gegenstand der formativen Konflikte, die man im Rückblick dann als Anfang oder Ende einer Epoche auffasst.

Institutionalisierungen des Unsinns können ihre Funktion nur erfüllen, solange die Markierung, die den Unsinn, den sie institutionalisieren, von blankem Unsinn unterscheidet, intakt bleibt. Fortschritte des Bauens und der ihm zugehörigen Diskurse der Rechenschaft aber tendieren dazu, gerade diese Markierung zum Schwinden zu bringen. Die Bewahrung oder Erneuerung der Anschlussfähigkeit wird also vorwiegend damit befasst sein, das Hinübergleiten institutionalisierten Unsinns in blanken Unsinn zu bremsen oder zurückzunehmen.
Die nachdrücklichste Form der genannten Markierung, so war gesagt worden, sei die Herbeiführung einer Erfahrung arbiträrer Präferenz, sei es durch den Konsum psychoaktiver Substanzen oder anderweitig, dies aber eingebettet in die Strukturen des Unsinnigen, deren Unterschied zu blankem Unsinn markiert werden soll. Allein schon deshalb, weil wir noch da sind, müssen wir das Arbiträre, dessen Zugriff wir ausgesetzt sind, als ein uns Präferierendes deuten, obgleich es als Arbiträres keine Präferenzen haben kann. Darauf kam es an. In der Erfahrung, die wir mit dem Zugriff des Arbiträren machen, entgleitet es uns als das Arbiträre. Wir erfahren es, sehen uns dabei aber nicht zu ihm ins Verhältnis gesetzt. Dies gelänge nur einer Erfahrung arbiträrer Präferenz, die wir nicht einfach nur machten, sondern selber herbeiführten. Weiterhin ein Präferierendes, bliebe das Arbiträre zwar weiterhin lediglich als Entgleitendes erfahrbar, wir hätten uns aber, da wir sie herbeigeführt hätten, zur Erfahrung ins Verhältnis gesetzt und damit indirekt auch zum Erfahrenen.
Strukturen des Unsinnigen markieren ihren Unterschied zu blankem Unsinn, indem sie sich als Ausdruck oder Verkörperung solchen Herbeiführens und auch des dabei Erfahrenen etablieren. Wer sich daran hält, findet sich zur Herbeiführung der Erfahrung arbiträrer Präferenz ins Verhältnis gesetzt und damit, verglichen mit dieser, ein weiteres Mal indirekt zur arbiträren Präferenz selber.

Der wegschiebende Blick auf das Arbiträre will nicht-arbiträre Verknüpfungen, die eine Weile Bestand haben. Bauen meint das Herstellen solcher Verknüpfungen. Gelingen diese, so akkumuliert sich Gebautes, in dem wir uns dann, an ihm fortbauend und immer auch mit Reparaturen beschäftigt, eine Zeitlang frei vom Zugriff des Arbiträren bewegen können. Es akkumulieren sich damit aber auch Erinnerungen an das Bauen. Unter diesen und jenen Bedingungen ergab sich dies, wenn man jenes tat, anderes dagegen, das man gerne gewollt hätte, ergab sich nicht. Unter veränderten Bedingungen ergab es sich dann doch, dies aber nur, indem man etwas tat, an das man nie gedacht hatte. Erinnerungen dieser und ähnlicher Art schärfen den Blick für das unter gegebenen Bedingungen Mögliche. Sie eröffnen, genauer noch, den Blick für das Modale: das ist möglich, das unmöglich, das notwendig, das wahrscheinlich, das eher unwahrscheinlich.    
Die Eröffnung dieses Blicks differenziert den Raum der Erwartungen. Nahezu alles kann passieren, wahrscheinlich aber ist, dass dieses passiert und nicht jenes, oder wenigstens, dass jenes zunächst einmal nicht passiert. Der wegschiebende Blick wird zum modal sich differenzierenden Blick.
Der sieht, einerseits, dass nicht immer und in allen Angelegenheiten Grund zur Sorge besteht. Andererseits sieht er aber auch, dass selbst das Unwahrscheinlichste jederzeit passieren, das Arbiträre auch als Weggeschobenes jederzeit zugreifen kann. Das Bedürfnis, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, besteht fort, auch wenn es für eine Weile schweigt. Die modale Differenzierung des wegschiebenden Blicks schärft auch die Aufmerksamkeit hierfür und damit auf jenen anderen Blick, durch den er, im Sinne des verschobenen Janus, immer hindurchschaut. Diesen dann kultivierend, kommt es zu dem beschriebenen Bemühen, die Anschlussfähigkeit zu den vorhandenen Institutionalisierungen des Unsinns hin – oder von diesen her – zu stärken. Nach dem Gesagten wird sich dies insbesondere auf die Hervorhebung oder Erneuerung der Markierung ihres Unterschieds zu blankem Unsinn konzentrieren. 

Wenn die, und davon gehen wir aus, letztendlich an die Herbeiführung einer Erfahrung arbiträrer Präferenz geknüpft ist, wird sich die Kultivierung jenes anderen Blicks am Ende zur Erneuerung dieser Erfahrung genötigt sehen. Arbiträre Präferenz aber ist gerade das Fehlen modaler Differenzierung, jedes Herbeiführen einer Erfahrung arbiträrer Präferenz mithin ein Akt modaler Entdifferenzierung.
Die Stärkung der Anschlussfähigkeit vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns und damit der Kompetenz, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, wirkt der modalen Differenzierung des wegschiebenden Blicks entgegen, der gerade durch jene Differenzierung die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Stärkung beförderte. Je mehr und besser das bauende Wegschieben gelingt, desto deutlicher wohl wird auch diese Einsicht, desto apokalyptischer aber auch die Perspektive, falls das als notwendig Eingesehene vollständig gelänge. Unterschiedliche Kulturen gehen und gingen mit dieser Aporie auf unterschiedliche Weise um, auflösen lässt sie sich nicht.

*

Ohne die Kompetenz, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, hilft das Wegschieben, so sehr es auch gelingen mag, wenig. Als jederzeit mögliche Unterbrechung von Normalität bleibt dessen Zugriff immer nah. Jenseits eines bestimmten Lebensalters, das man deshalb als Lebensmitte ansieht, ist das Näherrücken dieses Zugriffs sogar ein Moment von Normalität. Fehlt die genannte Kompetenz, so wird die Grenze von Normalität, die zu deren Begriff und Realität gehört, zur immer gegenwärtigen Angst.
Wege aus der Angst werden, umgekehrt, immer Versuche sein, sich zum Zugriff des Arbiträren ins Verhältnis zu setzen. Ohne den Rückgriff auf Institutionalisierungen des Unsinnigen wird dies schwerlich gelingen. Soll dies ohne den Abriss modaler Differenzierung und dem daraus sich ergebenen Kollaps des Wegschiebens geschehen, so wird es darum gehen müssen, deren Differenz zu blankem Unsinn anders zu markieren denn durch Herbeiführung einer in sie eingebetteten Erfahrung arbiträrer Differenz. Die Wege, auf denen man dies versucht hat und versucht, lassen sich in Geschichte und Gegenwart der unterschiedlichen Kulturen studieren. Eine Strategie, die sich von früh an wohl in den meisten Kulturen findet, wenn auch mit unterschiedlich zentraler Funktion, ist die Ausformung von Diskursen, die an die genannten Diskurse der Rechenschaft anknüpfen und diese auf die vorhandenen Institutionalisierungen des Unsinnigen hin überschreiten.

Von denen kommen sie, wie gesagt wurde, zunächst einmal selber her. Von den Diskursen des Unsinnigen, die zunächst als Diskurse der Rechenschaft fungierten, haben sie sich mit dem Fortschreiten des Bauens und Wegschiebens abgelöst und die Logik ausgebildet, mit der das Unsinnige erst als Unsinniges charakterisiert werden kann. Die genannte Strategie knüpft nun an diese Abgrenzung, welche diese Diskurse mit jener Ablösung vollzogen, ohne sie eigens zu thematisieren, wieder an. Diskurse des Unsinnigen, die vor dieser Ablösung als Diskurse der Rechenschaft genommen wurden, können nicht unsinnig sein und gewesen sein wie eine regellos gewählte Lautfolge. Es muss also Diskurse geben, die anders sinnhaft sind, nicht wie die der Rechenschaft, aber auch nicht unsinnig.
Diskurse der Rechenschaft, so kann man den Einsatzpunkt dieser Strategie auch charakterisieren, lassen sich auf die Nötigung ein, Rechenschaft von sich selber zu geben. Allein so nämlich, als eben diese Nötigung, kann sich die Allgegenwärtigkeit der Angst, die mit dem Gelingen bauenden Wegschiebens, von dem sie Rechenschaft geben und an dem sie kein Fehl zu finden vermögen, eher zu- als abnimmt, in ihnen und für sie darstellen. In dem Gelingen, von dem sie Rechenschaft geben, fehlt offenbar etwas, dessen Fehlen sie aber nicht anzuzeigen vermögen. Die Angst zeigt es an, nicht aber sie, die Diskurse der Rechenschaft. Nach deren Kriterien ist, wenn das bauende Wegschieben gelingt, alles bestens. Darin zeigt sich eine Grenze. Das Gelingen, von dem sie Rechenschaft zu geben vermögen, ist ausschnitthaft. Sie selber, als Diskurse der Rechenschaft, sind es ebenso.
Hinter die Forderung, Rechenschaft zu geben, gibt es an diesem Punkte freilich kein Zurück. Wenn es ein anderes Gelingen und Misslingen gibt als das bauenden Hinausschiebens, die Logik der Rechenschaft aber, die von diesem handelt, jenes nicht erreicht, so bleibt nur, die damit bezeichnete Grenze zu bestimmen und dann über sie hinauszugehen. Es geht also um eine Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft. Der muss reich genug sein, um sowohl vom Versuchen bauenden Hinausschiebens als auch von Versuchen, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, Rechenschaft zu geben.

Rechenschaft hier und dort kann nicht das gleiche, muss aber dennoch in beiden Regionen Rechenschaft in einem mehr als nur namensgleichen Sinne sein. Die Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft verlangt mithin zweierlei.
Sie verlangt die Ausarbeitung eines Diskurses, der Institutionalisierungen des Unsinnigen, seien es Diskurse oder Praktiken, als verbindlich, gültig, das von ihnen Beanspruchte tatsächlich erfüllend, auszuweisen oder aber diesen Anspruch als falschen und unwahren zurückzuweisen vermag. Mit seiner Hilfe muss es möglich sein, zwischen unsinnigen Diskursen und Praktiken, die schlechthin unsinnig, und solchen, die unsinnig nur nach den Kriterien der Logik des bauenden Wegschiebens sind, zu unterscheiden. Dies wird nur möglich sein, wenn er uns in die Lage versetzt, über die Gültigkeit der Markierungen zu befinden, mit denen Institutionalisierungen des Unsinns beanspruchen, sich von blankem Unsinn zu unterscheiden. Dieser erste Diskurs wird also nicht mehr und nicht weniger vorzulegen haben als eine Logik eben dieser Markierungen, oder wenigstens das Fragment einer solchen. Aufruhend darauf wird er sich in der Regel selber als diskursive Markierung des genannten Unterschieds im Blick auf bestimmte Diskurse und Praktiken des Unsinnigen darstellen. Diese und jene Diskurse und Praktiken, so wird er dartun, im Unterschied zu vielen anderen, seien wahrhaft in der Lage, uns zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, und dies aus den und den Gründen.
Begleitend dazu verlangt die Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft einen Diskurs, der den Zusammenhang der Logik der genannten Markierungen mit der Logik bauenden Wegschiebens entwickelt. Idealiter wäre dabei der Unterschied dieser beider Logiken als Resultat der inneren Unterscheidung eines umfassenden Diskurses der Rechenschaft zu entwickeln, der sich nach diesen beiden Richtungen hin gleichsam ausfaltet. Rechenschaft nur nach einer dieser beiden Seiten hin oder nach der Logik einer der Seiten allein wäre dann immer schon verstanden als unvollständige Rechenschaft, und dies selbst dann, wenn die Logik der anderen Seite zum Rätsel geworden wäre.

Nachhaltig, wie man das auch nennen mag, kann das bauende Wegschieben des Arbiträren und seines Zugriffs nur gelingen, wenn es einhergeht mit dem Bau von Wegen aus der Angst. Alles hängt dabei ab vom Gelingen einer Remarkierung des Unterschieds vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns von blankem Unsinn in einer Weise, die mit einem hohen Grad modaler Differenzierung vereinbar ist. Misslingt dies, so erzwingt die Angst schließlich Wege, die sich um diese Bedingung wenig kümmern. Institutionalisierungen des Unsinns, die dabei sind, in die Region blanken Unsinns hinüber zu gleiten oder bereits dort angekommen sind, werden von diesem erneut unterschieden, indem man auf der verblassenden Markierung besteht und diese so grell wie nur möglich unablässig wiederholt. Unter der Grelle geht das Verblassen dennoch weiter, weshalb der Erhalt des Unterschieds allein auf dem fortgesetzten Insistieren ruht.
Die Dynamik des Verblassens, gegen die sich dieses Insistieren richtet, wird nach dem Gesagten vom bauenden Wegschieben produziert. So richtet es sich, je weiter das Verblassen unter der Grelle fortschreitet, desto drastischer gegen dieses. Während die Akteure mit flackerndem Blick von einer längst fälligen kulturellen Erneuerung reden, die nun endlich auf dem Wege sei, charakterisieren Historiker Ereignisse dieser Art als Kulturbrüche, Atavismen, Rückfälle ins archaisch Barbarische oder gar als Ausbrüche des Barbarischen.
Die Resistenz einer Kultur gegen Einbrüche dieser Art ruht auf dem ihr verfügbaren Potential zu Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft im genannten Sinne. Verkürzt gesagt, meint dies ihr Potential zur diskursiven Markierung des Unterschieds vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns von blankem Unsinn. Spuren dieses Potentials sind eben die Texte, die wir gemeinhin studieren, wenn wir uns für das Innerste und Eigenste einer Kultur interessieren. Sie handeln davon, so charakterisiert man das oft, wie man die Welt sah, das Ganze, und sich selber in ihm. Über das Ganze aber können wir, da wir in ihm sind, nicht reden wie über Dinge, Personen, Sachverhalte und Ereignisse, die wir vor uns haben. Die Sprache über diese  ist uns vertraut. Ausgehend von ihr ist jede Rede, die nicht davon handelt, und so auch die vom Ganzen, unsinnig. Das genannte Potential zeigt sich in der Anstrengung, dennoch auf der Möglichkeit des Redens von Anderem zu beharren und diese auch zu kultivieren. Die so entstehenden Texte und Diskurse werden dann zum Medium, in das man sich begibt, um sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen.

*

Am weitesten hat es mit dem bauenden Wegschieben der Westen und die von ihm geprägte oder nach ihm sich modellierende Welt gebracht. Für die dort Lebenden wird es, im Durchschnitt wenigstens, später ernst als anderswo. Am Anfang des hier sich ausformenden Diskurses der Rechenschaft steht die Philosophie in dem globalen Sinne, in dem sie es heute nicht mehr ist. Durch vielerlei Umbrüche hindurch kommt es dann zu einer Ausdifferenzierung nach zwei Seiten hin. Die eine Seite ist bestimmt durch das Prinzip der Spezialisierung. Man schließt Vieles aus, um sich jeweils auf weniges zu konzentrieren. Sach- oder auch Problemregionen werden definiert und dann einzeln bearbeitet. Es entsteht, was wir als Fachdisziplinen oder auch Einzelwissenschaften charakterisieren, jede mit ihren besonderen, dem von ihr behandelten Gebiet angepassten Standards der Rechenschaft. Die andere Seite ist bestimmt durch die Frage nach der Einheit in all dem so Unterschiedenen, nach einem Durchgängigen, nach der Rechtmäßigkeit und eventuellen Grenze des Unterscheidens, nach dem Woher und Wohin von allem und in einem damit immer auch mit der Frage nach der Berechtigung solchen Fragens und den hierfür geltenden Standards der Rechenschaft. Philosophie in dem uns heute vertrauten Sinne, wenn es so etwas überhaupt gibt, entsteht so.
Zu den formativen Charakteristika des westlichen Diskurses der Rechenschaft gehört die Tendenz, die Herstellung der Erfahrung arbiträrer Präferenz als Option der genannten Markierung so weit wie nur möglich zurückzudrängen. Andere Traditionen versuchen stattdessen, sie umzugestalten und so einzubinden, dass sie mit modaler Differenziertheit vereinbar wird. Dies gilt etwa für Ostasien. Meditative Übungen und die durch sie herbeigeführten Erfahrungen haben für die ostasiatische Philosophie einen legitimen Ort, für die westliche Philosophie dagegen keinen oder höchstens einen prekären. Der westliche Diskurs der Rechenschaft zielt auf eine drastische Privilegierung des Diskursiven.

Die Industrialisierung brachte einen Schub bauenden Wegschiebens, der alles bis dahin Vorstellbare übertraf. Die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung insbesondere innerhalb des letzten halben Jahrhunderts sagt dazu alles. Spätestens mit der Zündung der ersten Wasserstoffbombe wurde aber auch deutlich, dass jede Steigerung bauenden Wegschiebens eine neue Form der Nähe des Weggeschobenen produziert. Zu den goldenen Jahren des Nachkriegsbooms gehört die Angst vor einem Atomschlag, möglicherweise auch einem, der sich aus Missverständnissen ergibt. Der Supergau, mit dem immer zu rechnen war und ist, hat in einer schleichenden Variante längst begonnen. Die Mittel und Instrumente, welche das gesteigerte Wegschieben des Arbiträren brachten, sind vollständig nicht zu beherrschen. Der westliche Diskurs der Rechenschaft, so wie er sich innerhalb der letzten Jahrhunderte entwickelt hat, ist auf die neue Kompaktheit der Angst, die unsere Gegenwart charakterisiert, nicht vorbereitet.
Die Erfolge bauenden Wegschiebens erzeugten eine Art Hybris der ihnen entsprechenden Dimension des Gesamtdiskurses. Bereinigend, wie es wohl gemeint war, richtete der sich gegen sich selbst. Diskurs- und Denkmittel der Einzelwissenschaften prosperierten. Das Insistieren darauf, da sei noch Anderes zu sagen, wurde kleinlaut. Denk- und Diskursmittel, die es vermocht hätten, die Anschlussfähigkeit der vorhandenen Institutionalisierungen des Unsinns zu erhalten oder zu erneuern, deren Unterschied zu blankem Unsinn also auf eine Weise zu markieren, die den Diskursen bauenden Wegschiebens an Gewicht entspricht, gelangen nicht.
Illustrativ für dieses Misslingen und dessen weitere Steigerung gerade auch in der Zeit, in der die Angst zunehmend kompakter wurde, ist die Rezeption des frühen Wittgenstein. Nach der so genannten Standard-Interpretation gilt der Bereich dessen, wovon man reden kann, als sehr schmal und jede Überschreibung von dessen Grenzen als Produktion von Unsinn. Dennoch gebe es über das Sagbare hinaus noch etwas. Von dem könne man nicht reden, wohl aber schweigen. Die Markierung des Unterschieds von Unsinn und blankem Unsinn hat damit ihren Nullpunkt erreicht. Institutionalisierungen des Unsinns werden zu blankem Unsinn, sobald wir von ihnen reden. Ins Verhältnis zum Arbiträren könnten wir uns mit ihrer Hilfe nur schweigend setzen. Eine weitgehend in den 90er Jahren ausgearbeitete Interpretation von Wittgensteins Tractatus, repräsentativ zusammengefasst in dem Band The New Wittgenstein, betrachtet das Festhalten an einem Unsagbaren als ein Ausweichen vor den wahren Konsequenzen von Wittgensteins therapeutischem Philosophieren. Unsinn sei Unsinn und nichts außerdem. Nach dem Misslingen einer Sprache zur Markierung des Unterschieds von Unsinn und blankem Unsinn wird damit die Aufgabe der Ausarbeitung einer solchen eingezogen, die Bewahrung oder Erneuerung der Anschlussfähigkeit vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns als Problem gleichsam weggepustet.

Die kulturelle Fragmentierung und Zersplitterung, so wie sie sich als Kehrseite des Prozesses der Globalisierung ergab, wird oft mit der Suche nach Identität in Verbindung gebracht. Daran wird sicherlich etwas sein. Die Frage aber ist, was zur Suche nach Identität treibt. Nach dem Gesagten darf man annehmen, dass es die Suche nach Wegen aus der Angst in einer Lage ist, die Institutionalisierungen des Unsinns diskursiv nicht vor dem Hinübergleiten ins schlechthin Unsinnige zu bewahren vermag. So greift man nach verblassenden Markierungen und sucht deren Verblassen durch grelle Repetition und Inszenierungen aller Art zu bremsen oder zu überdecken.
Es ist der skizzierte Mechanismus der Kulturbrüche. Die müssen nicht immer so aussehen wie man sie sich vorstellt. Sie können eher harmlos sein, wie der Tribalismus religiöser, politischer und anderer Jugendsekten. Kritisch ist immer die Frage, ob die gewählten Inszenierungen für die Beteiligten selber hinreichen, um das Verblassen der betreffenden Markierung zu stoppen und damit einen Weg aus der Angst zu eröffnen. Je weniger dies gelingt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Ausbrüchen von Gewalt und damit zum Kulturbruch in seiner allzu vertrauten Variante kommt. Kulturbrüche sind und bleiben freilich auch die eher harmlosen Varianten. Mit ihnen wird man auf absehbare Zeit wohl leben müssen.
Die beschriebene Lage hat noch einen zweiten Notausgang aus der Angst hervorgebracht. Es ist der Weg derer, die bereits ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass wir uns bei dem Bemühen, uns zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, auf keinerlei institutionalisierte Form verlassen können. Mithin ist es der einzig dann noch verbleibende Weg, der eben der Unmittelbarkeit, der Herstellung einer Erfahrung arbiträrer Präferenz. Der geläufige Name für diesen Weg ist Sucht, die Reduktion allen Wollens und Begehrens auf Eines, das Plattwalzen von allem sonst zum störenden Rest oder bestenfalls zum Mittel, in den Genuss des Einen zu gelangen. Der Konsum psychoaktiver Substanzen ist nur eine von vielen Varianten dieses Wegs. Es kann, wie man weiß, auch das Einkaufen sein, das Autofahren oder das Surfen im Internet, schlechthin alles. Auch dieses Zusammensinken des Reichtums und der Buntheit der Welt zum Rest auf dieses oder jenes Eine hin wird uns wohl noch lange begleiten.


*

Solange Wege aus der Angst nicht gelingen, bleiben nur Notausgänge wie Sucht und Kulturbruch. Ob es je Auswege geben wird und wie die dann aussehen mögen, ist nicht abzusehen. Gegenwärtig deutet nichts darauf hin.
Jussuf geht ins Suppenzelt. Drüben am Strand ist auch die letzte Zehe eingeölt. Der mit der Nadel drückt sich, was immer darin sein mag, ins Blut.



Literatur

ALICE CRARY and RUPERT READ (Ed.), The New Wittgenstein (London: Routledge, 2000).
ROBERT L. DUPONT, The Selfish Brain: Learning from Addiction (Washington, DC.: American Psychiatric Press, 1997).