Siegfried Weischenberg / Maja Malik / Armin Scholl
Die Souffleure der Mediengesellschaft
Report über die Journalisten in Deutschland
Konstanz (UVK) 2006, 316 S.


Das Buch Die Souffleure der Mediengesellschaft basiert auf einer repräsentativen, im Jahr 2005 erhobenen Studie zur Situation des deutschen Journalismus. Sie baut auf einem mit der ersten derartigen Untersuchung aus dem Jahr 1993 nahezu identischen Fragenkatalog auf und erlaubt somit einen direkten Vergleich der Ergebnisse und damit einhergehend der Veränderung des journalistischen Selbstverständnisses über einen Zeitraum von zwölf Jahren. Siegfried Weischenberg, einer der bekanntesten deutschen Publizistikprofessoren, und seine Mitautoren haben dazu 1500 Journalisten befragt. Das Ergebnis ist eine präzise Darstellung des Selbstbildes der Journalisten in der heutigen deutschen Medienlandschaft.

Die Studie entspricht dem Portrait einer Berufsgruppe, die zweifellos einen großen Einfluss auf die Gesellschaft sowie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen hat. Der Band liefert eine informative Darstellung dieses Berufsstandes, der keine formalisierte Ausbildung verlangt, in der Bevölkerung nicht gut angesehen ist und trotz allem eine Menge Menschen als Beruf anzieht. Für Journalisten und solche, die es werden wollen, ohnehin ein Muss, dürfte der Band auch für all jene interessant sein, die die Medien bewusst konsumieren. Denn wie sagte der Soziologe Niklas Luhmann: »Alles, was wir über die Welt, in der wir leben, erfahren, wissen wir aus den Massenmedien.«

Trotz der Ubiquität der Massenmedien können auch Journalisten die Wirklichkeit ihres Berufes nicht frei kreieren, sondern müssen Befunde zur Kenntnis nehmen, welche die Wissenschaft erhebt. Die Studie will zeigen, wer die Macher dieser Massenmedien sind und was sie bewegt. Sie stellt Fragen wie: Sind Journalisten die vierte Gewalt im Staate? Wie groß ist ihr Einfluss wirklich? Was verändert sich, wenn Blattmacher wie Frank Schirrmacher (Frankfurter Allgemeine Zeitung) oder Hans-Ulrich Jörges (Stern) nicht mehr nur andere befragen, sondern selbst in Talkshows auftreten? Wie sieht die überwiegende Mehrheit der 48000 deutschen Journalisten, die nicht im Rampenlicht steht, ihre Arbeit? Wie hat sich der Journalismus durch das Internet verändert?

Weischenberg, Malik und Scholl plädieren für einen aufmerksamen Umgang mit den Veränderungen in der Branche und fordern, die Qualität in der Journalistenausbildung anzuheben. Schon eingangs der Studie stellen sie fest, dass viele Journalisten Schwierigkeiten mit dem Umgang mit Fakten und Meinungen haben, obwohl auch für sie das Zitat des Soziologen und Politikers Daniel Patrick Moynihan gelte: »Everyone is entitled to his own opinion, but not his own facts.« Dies zu akzeptieren, so die Autoren, fällt einem Teil der Journalisten schwer, denn so mancher erhebt nicht nur Anspruch auf die Macht seiner eigenen Meinung, sondern auch auf seine eigenen Fakten. Gerade Großjournalisten, die ständig kräftig austeilen, empfinden es offenbar als Majestätsbeleidigung, so die Autoren, wenn sie selbst einmal getroffen werden. Auf Kritik reagieren sie mit Empörung.

Dennoch geht es in der Studie nicht um die Dünnhäuter unter den Journalisten, sondern  um die Leistungen der Medien, wobei ›Leistung‹ nicht immer als Kompliment gemeint ist. Da schimmert stets Manipulationsverdacht, Angst vor einer nicht legitimierten Beeinflussung, Ärger über Aussetzer einzelner Berufsvertreter etc. durch. Wirkungsmächtig, wahlentscheidend, prinzipiell manipulationsfähig und manipulationsbereit kommt der bundesrepublikanische Journalismus seit einigen Jahren daher. Dass diese Ängste berechtigt sind, wird im Band an einer großen Anzahl von Beispielen belegt.

Sicherlich, die Journalisten waren immer schon eine einflussreiche Berufsgruppe, allerdings hat sich ihre Bedeutung in den letzten Jahren verstärkt. Der Übergang zur sogenannten Mediengesellschaft hat bewirkt, dass Menschen heute ihre Weltbilder wie nie zuvor mit Hilfe der Medien zeichnen. Der Begriff der ›Mediengesellschaft‹ soll deutlich machen, dass immer mehr kommunikative Prozesse in der modernen Gesellschaft mediale, also technisch und meist auch professionell-organisatorisch vermittelt sind und dies die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse grundlegend verändert.

Die Probleme der Mediengesellschaft manifestieren sich beispielsweise in Form von Entgrenzungen. Nicht nur die bekannten Prozesse der Ökonomisierung, der Hybridisierung – also der Vermischung von Inhalten – sowie der Deprofessionalisierung sind im deutschen Journalismus zu beobachten, sondern zunehmend auch die Boulevardisierung. Daher lautet eine der aktuellsten Fragen zum Zustand des Journalismus: Wie und wann geht dem Journalismus durch die Prozesse der Boulevardisierung so viel Substanz verloren, dass er als Instrument der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung untauglich wird?

Diese Frage ist schon deshalb von überragender Bedeutung, weil die in der Verfassung garantierte Pressefreiheit vor allem durch Journalisten realisiert wird. Dabei geht es nicht nur darum, über die Welt zu informieren und die Mächtigen zu kritisieren und zu kontrollieren, sondern auch, den Sprachlosen und Ohnmächtigen in dieser Gesellschaft eine Stimme zu verleihen. Deshalb erstaunt es, wie wenig Aufmerksamkeit auf die Qualität und Qualitätssicherung der Medien verwandt wird. Das wirft die Frage auf, ob wir auch über die richtigen Journalisten verfügen: gut ausgebildete, reflektierende Personen, die uns ins Bild setzen können, Orientierung geben und glaubwürdig und frei von Vorurteilen sind.

Selbst unter den Journalisten wird dies bezweifelt. Heribert Prantl, der Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, schreibt: »Wir müssen aufhören von Journalismus zu reden, wenn es sich nicht um Journalismus handelt. Zerstreuung, Kurzweil, Larifari ist Unterhaltung, nicht Journalismus.« Der ehemalige Chefredakteur der Zeit, Roger de Weck, glaubt sogar, unter Journalisten gebe es inzwischen mehr Populisten als unter Politikern. Insgesamt lassen sich immer mehr neue Formen ausmachen, die den Journalismus nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Technik, zum Marketing und zur Öffentlichkeitsarbeit hin erweitern. Da fürchtet mancher, dass er zur »fünften Kolonne« für so manches wird, was mit unabhängiger Berichterstattung nichts zu tun hat, und dass dies seine bisherige Funktion verändert, die da heißt: als zentrales Selbstbeobachtungsinstrument einer Gesellschaft zu dienen.

Gewiss muss sich Journalismus in einem marktwirtschaftlichen System rechnen. Medien und Geschäft sind stets Hand in Hand gegangen. Allerdings ist in den letzen Jahren eine Universalisierung der Marktmechanismen festzustellen. Diese Mechanismen folgen einem neoliberalen Modell. Danach ist der Kunde König und die Medien folgen bei der Auswahl und Präsentation der Nachrichten ausschließlich den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. Skrupel angesichts irrelevanter Themen oder sich prinzipiell verbietende Formen der Darstellung sind – im Rahmen der geltenden Gesetze – unbekannt.

Meinungsfreiheit ist ein öffentliches Gut, das wir uns etwas kosten lassen müssen. Bei seiner Pflege muss der Staat mitwirken, und sei es durch die Regulierung von Selbstregulierung. Öffentliche Güter müssen der Kommerzialisierung Grenzen setzen, meint daher der Philosophieprofessor und einstige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Doch nach der vorliegenden Studie verhalten sich die Medien in einer Marktgesellschaft primär kunden- und erfolgsorientiert – inzwischen gilt das auch für die öffentlich-rechtlichen Sender. Der Zweck heiligt fast alle Mittel der Boulevardisierung. Das meint nicht nur Personalisierung, sondern auch Familiarisierung, Simplifizierung, Polarisierung, Melodramatisierung und Visualisierung aller Themen. Mit dem Feuer spielt man insbesondere dann, wenn der Journalismus schutzlos PR-Kampagnen ausgesetzt wird, weil seine Rechercheressourcen nicht ausreichen, und die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen zur Disposition steht. Auf den globalen Informationsmärkten gilt Boulevardisierung als Ausdruck immanenter Selbstgefährdung.

Folgt man dem republikanisch-diskursiven Modell von Öffentlichkeit, das den Austausch von Argumenten auf dem offenen Forum eines Marktplatzes verlangt und nach dem Beitrag des Journalismus für die demokratische Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger fragt, dann ist die Boulevardisierung der Inhalte grundsätzlich abzulehnen. Aber den Gesetzen des Marktes bewährte berufliche Standards wie Unabhängigkeit, Sorgfalt und Fairness bei der Berichterstattung entgegenzusetzen, wird zunehmend schwieriger. In einer Vielzahl von Gerichtsurteilen wurde die mangelhafte Qualität des Journalismus – insbesondere im Bereich der Recherche – nachgewiesen. Allein deswegen erscheint es geboten, sich ernsthafter als bisher mit Strukturen zur Qualitätssicherung zu beschäftigen.

Journalismus macht nur einen Teil dessen aus, was Medien veröffentlichen: Anzeigen und Werbung, Spielfilme, Kreuzworträtsel, Talentshows, Fortsetzungsromane, Telenovelas oder Hörspiele konkurrieren mit ihm um die Aufmerksamkeit der Konsumenten. Der immanente Zwang, der Konkurrenz die pikante Story, das knackige Zitat, das exklusive Foto wegzuschnappen, um einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, provoziert zum ›corriger la fortune‹. Er verführt die Schwachen und unter Zeitdruck Stehenden, eine Geschichte notfalls auch mit grenzwertigen Mitteln aufzupeppen. Für viele ist die Arbeit in den Medien nur noch eine mehr oder weniger spannende Episode. Heute ist jemand Reporter, morgen arbeitet er in einer Werbeagentur und übermorgen an der Börse. Diese Kurzfristigkeit und oftmals Kurzsichtigkeit bezüglich der Folgen begünstigt die Boulevardisierung, für die das eherne Gesetz gilt: Der Wert einer Information bemisst sich nicht an ihrer Wahrheit, sondern an ihrer Attraktivität.

Bekanntestes Beispiel dieser Fehlentwicklung sind die Fälschungen des selbst ernannten »Borderline-Journalisten«, also Grenzüberschreitungsjournalisten, Tom Kummer. Mit seinen Fälschungen ist er nicht allein geblieben. Heute besitzen viele Medienangebote schlichtweg Inszenierungscharakter. Sie sind Konstruktionen, die mehr mit den Gesetzen der eigenen Produktion zu tun haben als mit den dargestellten Ereignissen. Den Lesern ist eine Realitätsprüfung nicht möglich, sie bleiben auf den zugeschriebenen Wirklichkeitsbezug angewiesen. Dabei spielt die Erfahrung mit Medien und einzelnen Journalisten eine große Rolle.

Vertraut man den Befunden der Studie, dann liegt hier das derzeit akuteste Problem des deutschen Journalismus: die Grauzone des ›Borderline‹, also der Bereich, in dem sich Einbildung und Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit treffen. Zum Grenzüberschreitungssyndrom gehört das Erfinden von künstlichen, also falschen, erfundenen oder künstlich provozierten Nachrichten, auch als ›Kunststoffjournalismus‹ bezeichnet. Dessen Prinzip lautet: Es gibt mehr Medien als Informationsstoff, daher muss letzterer künstlich produziert werden. Aber nicht nur Fälschungen, Unwahrheiten und Kunststoffjournalismus untergraben die Seriosität des deutschen Journalismus. Auch unlautere oder nicht akzeptable Methoden gehören zum marktschreierischen ›Hype‹ der schönen neuen Medienwelt.

Auch in Großbritannien diskutiert man die problematischen Methoden dieser Art von Journalismus. Der zentrale Vorwurf lautet dort, sie zerstörten die demokratischen Institutionen, die sie zu schützen vorgeben, und nützten die Massenaufmerksamkeit für eigene Zwecke. Kritisiert wird etwa der inquisitorische Interviewstil bestimmter Journalisten oder die Publikation gefälschter Fotos, der unübersehbare Aufstieg einer breiteren media class in den letzten Jahrzehnten, deren ›Alphatiere‹ heute in unangemessener Weise Einfluss auf die Politik nähmen, so dass sich die Frage nach einem Putsch der ›vierten Gewalt‹ stelle. Kurt Kister, langjähriger Hauptstadt-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, attestiert den Rudelführern dieser Meute, sich manchmal auf einem sehr schmalen Grat zwischen Journalismus und Politik zu bewegen.

Für solche Rollenprobleme lieferte der Bundestagswahlkampf 2005 ein markantes Beispiel. Ein Teil der Berufsvertreter, konstatierte Giovanni di Lorenzo in der Zeit, sei durch Gesinnungsjournalismus aus der Rolle gefallen. Die Medien hätten sich in diesem Wahlkampf so stark wie kaum zuvor als Macher statt Mittler verstanden, hieß es in der taz – nach Auffassung des Berliner Tagesspiegel auf jeden Fall eine Grenzüberschreitung: »Wir haben uns eine Rolle angemaßt, die über das hinausgeht, was den Medien zusteht.« Die Rheinische Post konzentrierte ihre Kritik direkt auf eine bestimmte Akteurebene: »Wenn Großjournalisten Politik machen wollen, ist das weder gut für den Journalismus noch für die Politik. Also sollte ab sofort gelten: Mehr Distanz halten.« Als einen Offenbarungseid des deutschen Journalismus kann man das Auseinanderklaffen der Wählermeinung von der von den Journalisten im Endspurt veröffentlichten Meinung ansehen. Di Lorenzo schrieb in der Zeit: »Es haben […] vor der Wahl nicht nur alle Demoskopen und ein Teil der Politiker die Ängste und Wünsche der Wähler falsch gedeutet und einen klaren Sieg der Union vorausgesagt. Auch die Medien haben sich blamiert. Sie haben sich ganz auf die Prognosen verlassen und sich gegenseitig in ihren falschen Einschätzungen noch bestärkt, statt sie mit Distanz zu prüfen. Insofern sind wir Journalisten Teil des Problems, das mit dem überraschenden Ergebnis am 18. September sichtbar geworden ist: Das Sensorium für die Menschen außerhalb des politischen Betriebs ist stumpf geworden.«

Die Methodenproblematik ist in Deutschland auch deshalb so stark, da es hier keine strikte Rollentrennung zwischen Redakteuren und Reportern gibt. In den USA kennt man eine eigene Rechercheinstanz, während für den deutschen Journalismus der Rollenmix kennzeichnend ist. Das Recherchieren wird dadurch zu einer Tätigkeit unter vielen. Die vorliegende Studie macht deutlich, dass sich das deutsche Problem verstärkt: Zwischen 1993 und 2005 hat der zeitliche Aufwand für die Recherche von 140 Minuten auf 117 Minuten abgenommen. Verschlimmbessert werden die unzufriedenstellenden und die Demokratie unterlaufenden Recherchedefizite dadurch, dass sich Journalisten mehr denn je an anderen Medien und an ihren Kollegen orientieren. Das steigert die mediale Selbstreferenz und macht die journalistische Wirklichkeit unsensibel für nicht-mediale Perspektiven auf die Welt. Sichtbarster Ausdruck dieser Selbstreferenz ist es, wenn Journalisten Journalisten interviewen oder der Journalismus selbst zum Thema der Berichterstattung wird, wie dies in Form von Medienseiten in überregionalen Tageszeitungen seit einigen Jahren geschieht. Alle Formen der journalistischen Selbstorientierung machen auf eine Gefahr aufmerksam: Dass sich Medien auf Themen und Positionen konzentrieren, die nur die Lebenswelt der Journalisten berühren, Anerkennung durch Kollegen bringen oder der Demonstration der eigenen Macht dienen. Dabei werden oft Ereignisse und Entwicklungen übersehen, die erheblich größere Relevanz für die Gesellschaft und für ihr Publikum besitzen.

Ein einzelnes Medium kann dann als Leitmedium gelten, wenn es häufig oder regelmäßig von besonders vielen Journalisten genutzt wird, also entweder als Informationsquelle oder zur Orientierung für die eigene Berichterstattung herangezogen wird. Die von Weischenberg, Malik und Scholl produzierten empirischen Daten zeigen, dass in den Printmedien heute die Süddeutsche Zeitung die wichtigste Rolle spielt. Sie wird von etwas mehr als einem Drittel der Journalisten (35%) häufig oder regelmäßig beruflich genutzt, dicht gefolgt vom Spiegel mit ebenfalls gut einem Drittel (34%) der Nennungen. Im Segment der Wochenzeitungen und politischen Magazine folgen mit großem Abstand die Zeit (11%) vor Stern (6%) und Focus (5%). Bei den  überregionalen Tageszeitungen liegen hinter dem Spitzenreiter Süddeutsche Zeitung mit großem Abstand die Frankfurter Allgemeine Zeitung (15%), die taz (7%), die Welt, Frankfurter Rundschau und Financial Times Deutschland mit jeweils 4 Prozent der Nennungen.

Die Bild-Zeitung, die sich nach dem Kriterium der größten Auflage und Reichweite mit Recht als Leitmedium tituliert, wird nach eigenen Angaben nur von einem Zehntel der Journalisten (10%) regelmäßig zur beruflichen Lektüre herangezogen. Die Themen, die von Bild aufgeworfen werden und später große Medienresonanz erfahren, gelangen daher eher über die Nachrichtenagenturen in andere Redaktionen. Agenturjournalisten lesen mehr als doppelt so oft Bild wie der Durchschnitt der Journalisten (21%). Dass der Bild-Zeitung keine Leitmedien-Funktion zukommen sollte, findet selbst die Zustimmung des Springer-Chefs Mathias Döpfner: »Man sollte die ›Bild‹-Zeitung nicht zum vorherrschenden Leitmedium überhöhen. Das ist für die Redaktion zwar ein Kompliment, aber ob es das auch für den geistigen Zustand unserer Republik ist, da habe ich meine Zweifel.«

Diese empirischen Befunde machen es unwahrscheinlich, dass ein einzelnes Medium die Definitionsmacht über gesellschaftlich relevante Themen zu erlangen vermag. Kein Medium – auch nicht Fernsehen und Hörfunk – wird so intensiv von Journalisten rezipiert, dass seine Themen ohne weiteres übernommen würden und es damit eine Leitfunktion für den Journalisten innehätte. Dies ist ein erfreulicher Befund für die noch existente Medienvielfalt in Deutschland. Sieht man sich hingegen die empirischen Befunde zu Alter, Geschlecht, Familiensituation, Einkommen etc. der Journalisten an, die von der Studie zu Tage befördert wurden, kann man gut erkennen, dass die Lebenswelt der Journalisten nicht repräsentativ ist – mit der Gefahr, dass Journalisten wichtige Themen außerhalb ihrer Kreise nicht mehr adäquat wahrnehmen oder schlicht verschlafen.

Immer häufiger besteigen Journalisten selbst die Bühne des öffentlichen Theaters. Auf Plakaten werben sie für Fluglinien, in großen Portraits lassen sie ihr Privatleben durchleuchten, in Talkshows flüstern sie uns ihre Einschätzung der politischen Lage zu. So machen wir uns ein Bild von denen, die uns informieren und orientieren, die den Entscheidungsträgern auf die Finger schauen und uns dabei auch noch unterhalten sollen. Zu Recht weist der einstige Chef des Springer-Konzerns, Jürgen Richter, auf die Gefahr für die Pressefreiheit hin, die darin liegt: zu Qualitätsjournalismus gehöre nun einmal Distanz. Der Spiegel-Autor Jürgen Leinemann kritisiert, Journalisten verkauften sich heute selbst als Ware und ›Kenntlichkeit‹, vulgo Starkult, sei zur einträglichen journalistischen Qualifikation geworden. Die Studie belegt diese Tendenz. Deutlich zeigt sich, dass die Menschen und Mächte im eigenen Medienbetrieb die wichtigsten Bezugsgrößen für die Journalisten darstellen. Auch in anderen Ländern haben diverse Studien gezeigt, dass sich Journalisten in ihrer täglichen Arbeit in starkem Maße an eigenen Relevanzkriterien orientieren oder sich nach externen Interessen richten: Kollegen, Vorgesetzte und andere Medien werden so zu Indikatoren für mögliche Publikumsinteressen, gerade auch, weil die Journalisten wenig über ihr Publikum wissen. Die vorliegende Studie hat die Kollegenorientierung der Journalisten als interne Einflussgröße auf die Berichterstattung untersucht und bewertet diese als teilweise bedenklich. Auch in Deutschland läuft die journalistische Autonomie Gefahr, auf Grund starker Selbstbezüglichkeit in zunehmende Entfremdung vom Publikum umzuschlagen. 

Seine gesellschaftliche Funktion, aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in anderen Gesellschaftsbereichen öffentlich zu thematisieren, unterscheidet Journalismus von Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Romanen und anderen Medien. Demnach kann ein Ansatz, der zumindest auf dem Konsens über bestimmte Grenzen beharrt, die der Journalismus nicht überschreiten sollte, gut begründet werden. Es gibt keine Legitimation für ein Mediensystem, das ausschließlich ökonomisch ausgerichtet ist. Vielmehr gibt es die Verpflichtung zur Übernahme von sozialer Verantwortung aller Beteiligten in den Medien. Gerade der Aspekt der Glaubwürdigkeit wird für die Zukunft des Journalismus entscheidend werden. Dies gilt auch für das Internet. Den ›Crossover‹ von der Information zur Unterhaltung (›Infotainment‹) beschreiben Kritiker gemeinhin als Degeneration des Journalismus. Das wäre ein Indiz dafür, dass Informationsangebote von der Bevölkerung nicht selbstverständlich akzeptiert werden. Seriöser Journalismus könnte der letzte Garant für einen anspruchsvollen publizistischen Raum werden. Im Vergleich mit der Befragung von 1993 zeigt sich, dass sich die Bedeutung der Informationsfunktion bei den Konsumenten sogar noch verstärkt hat. Einen seriösen, umfassend informierenden Journalismus wird man sich freilich etwas kosten lassen müssen. Dass die Beziehung zwischen den Medien und ihrem Publikum nicht nur als geschäftlicher Deal betrachtet wird, sondern auch als öffentlich geführter Diskurs über die Probleme der Gesellschaft, ist die Legitimation für den Journalismus in der modernen Demokratie. Guter Journalismus weist daher im Gegensatz zur Boulevardisierung der Medien in die Zukunft – nicht in die Vergangenheit. Eine Korrektur der Entwicklung im Sinne einer Reform der Reform wäre dringend geboten.

Ulrich Arnswald