Ronald Perlwitz
Kleines indisches Tagebuch

1. Ankunft unter Ganeshas Obhut

Die Ankunft in Indien ist ein Topos der Reiseliteratur: auf den ersten Blick wirkt das Land fast abweisend, es erschlägt den Besucher durch die Fülle farbiger Eindrücke, die es zumutet, durch vielfältiges Gewimmel, durch sinnbetäubenden Andrang. Nehmen wir Naipaul, immerhin selbst indischen Ursprungs, wenn auch in der Karibik heimisch, ein Fremder im eigenen Lande also, dem man jedoch einen in die Tiefe der indischen Seele dringenden Blick zuschreiben möchte: Auch er beklagt sich. Ans Fenster seines Taxis dringt die dumpfe Zumutung, die das Land für jeden Reisenden aus dem Westen bereithält. Die sich teils langsam teils hektisch am fahrenden Auto vorbei schiebenden Menschenmengen, die Hitze und der Staub affizieren den Beobachter. Er leidet unter der zur Masse zusammengewachsenen Menschheit, die ihn nicht nur physisch, sondern auch in seiner individuellen Integrität bedroht. »Mit mir, in der Taxe waren die Auspuffgase, die Hitze und der Lärm. Die Sonne brannte, es war kaum Luft zum Atmen vorhanden; der von den Bussen ausgespieene Dreck klebt auf meiner Haut.« Es folgt eine Beschreibung lepröser Häuserfronten, abgerissener Plakate und der allgegenwärtigen Armut des Landes, zerfurchter Gesichter, abgemagerter Körper, deren Häufung mit ihrer Entmenschlichung einhergeht.

Und so drängte sie sich auch zu mir an die Scheibe des Taxis: diese gepeinigte, der Armut geopferte Menschheit. Eine Menschheit der Dunkelheit und des Leids, hervorgekrochen aus der Hölle des Alltags: sie hatte die Gestalt eines vielleicht 7 Jahre alten Mädchens angenommen, das immerfort auf seine leere Augenhöhle zeigte. Die zimtbraunen Haare standen wüst, starr vor Staub, von seinem kleinen dunklen Gesicht ab, das in schauspielerisch geübter Miene verzerrt auf das klaffende Loch zuzulaufen schien. Das Fäustschen hämmerte mit einer für das Alter des Mädchens unerwarteten Gewalt und Frequenz an die Scheibe. Es war im Recht hier und das zeigte es an. Seine Eltern, vielleicht auch Menschen, die sich seiner angenommen hatten, mussten ihm das rechte Auge ausgestochen haben, um das Betteln zu erleichtern und nun forderte es mit entwaffnender Selbstverständlichkeit das ihm zustehende Almosen ein.

Eingeschüchtert, verwirrt zuckte meine Hand, bewegte sich zur Hosentasche, doch schon fuhr das Auto weiter und im Rückspiegel funkelten mich die dunklen Augen des Fahrers an: »Don’t give them anything. They are like a disease. India will never improve with people like that: all they want is money without working.« Seine Ausführungen gingen noch weiter. Von organisierten Bettelgangs war da die Rede, von höchster Promiskuität, tierischem Verhalten und der Schande Indiens. Wie bei einem schlechten Palimpsest schimmerte durch seine Rede das jahrtausendealte Kastenbewusstsein: berühren dürfe man diese Leute auf keinen Fall. Ich blickte wieder nach draußen, sah nun das Gesicht hundertfach vervielfältigt in jeder bröckelnden Fassade, in jeder zerrissenen Auto-Rikscha-Verkleidung, in jeder hier und dort zur Schau gestellten Verkrüppelung. Es würde mich begleiten mit seinem Leid, das es jedoch trotz oder gerade dank seines jungen Alters zum Lebensinhalt gemacht hatte. Es hatte das Unrecht noch nicht begriffen, das man ihm angetan hatte. Doch was gab es hier überhaupt zu begreifen? Dass es dem Dreck angehörte, aus dem sie aufstiegen? Dass man ihm in der Gesellschaft den schlimmsten Platz zugeschrieben hatte: den Platz jener Menschen, denen aufgrund eines in einem früheren Leben begangenen Vergehens der Makel der Unreinheit anhaftet?

Da war sie nun, die Rechtsfrage, die gesellschaftlich zurechtgelegte Begründung für das Leid des Mädchens. Es versteht sich von selbst, Mr. Naipaul: für diesen Treibhausschmutz, für diese unerträglichen Menschenmassen, für diese lärmende Armut gibt es eine Begründung. Den Glauben? Mitnichten. Eher die Unschuld. Die Unschuld des Klopfens und Verlangens aufgrund des erfahrenen Leids. Auch in der untersten Kaste hat man noch ein Recht zu leben, darf man noch verlangen. »Indien ist ein zerbrochener Spiegel, in dem sich Gottes Pracht tausendfach reflektiert.« Diesen Satz hatte ich einmal gelesen, wo vermag ich nicht mehr zu sagen. Doch selten war er mir so präsent gewesen. Ich hatte eine der Scherben kurz in der Hand gehalten und ihren harten schmerzenden Rand gespürt. Doch auch das Licht der Unschuld schimmerte hindurch, hatte mir die dumpfe, ausufernde Menge transparent werden lassen. Ich konnte keinen Staub mehr sehen.

Das Taxi war wieder zum Stehen gekommen. Gleich neben uns hielt eine der gelb-grünen Auto-Rikschas. Innen an der kleinen gewölbten Windschutzscheibe klebten inmitten mehrerer goldglänzender Girlanden die üblichen Götterbilder: Shiva, Pārvāti und Ganesha. Während Shiva seinen entschlossen-gelangweilten Herrscherblick durch den Betrachter hindurch fahren ließ, Pārvāti ihre verklärt wissenden Augen auf die Welt richtete, schien es, als lächele der elefantenköpfige Ganesha zum Auto herüber. Vielleicht hatte er erkannt, dass ich ihn bei mir trug, in der Tasche hinten im Kofferraum. Wieder überkam mich die alte Begeisterung, ja Liebe. In der Tat war Liebe das richtige Wort. Der christliche Gott bleibt trotz der Dreieinigkeit meist eine entfernte Instanz, man nähert sich ihm im Gebet mit Respekt, manchmal Furcht, manchmal Vertrauen. Sein Sohn mag zwar unter uns gewandelt, an seiner menschlichen Konstitution sogar gestorben sein, geblieben ist eine menschliche Idealvorstellung. Amerikas unbedarft unbeholfene Revelationsromane über seine Liebschaften belegen zur Genüge, a contrario sozusagen, wie sehr dieser fleischgewordene Gott sich doch von uns unterscheidet.

Anders Ganesha. Zunächst kommt er wie ein umgedrehter Ödipus daher. Aus Lehm geschaffen durch seine Mutter Pārvāti, war er ihr Begleiter, während sein Vater wieder einmal im Büßergewand ausgezogen war, den Gang des Universums vorantreibend. Doch dann verweigert Ganesha dem unbekannten Vater den Zutritt zum Badezimmer der Mutter und zieht damit den Zorn des Zerstörergottes auf sich. Als Pārvāti den vom Vater geköpften Sohn erblickt, kommt es zur handfesten Ehekrise, die solange anhält, bis Shiva der ersten vorbeiziehenden Kreatur, einem Elefanten, den Kopf abschlägt, um ihn dem eigenen Sohn aufzusetzen. Während in Griechenland Ödipus gramgebeugt und erblindet über sein Verbrechen sinniert, wandelt sich Ganesha zum Bonvivant.

Vakratundamahākāya, sūryakotisamaprabha, avighnam kuru me deva, sarvarkāryasu sarwadā (Mein Gott, dessen Rüssel eine Krümmung, dessen Körper riesige Ausmaße hat, der genauso leuchtet wie 1000 Sonnen, Mein Gott hebe immer die Hindernisse bei jeder meiner Verrichtungen hinweg).

Leuchtender als jedes Licht, wird ihm zugeschrieben, Widerstände zu beseitigen, die es besonders beim Lernen, Schreiben und Denken, aber auch auf Reisen oder im Alltag aus dem Weg zu räumen gilt. Gleichzeitig liebt der Gott gutes Essen. Sein unentwegt dicker Bauch legt Zeugnis davon ab. Die blauen Waldbeeren haben es dem Göttersohn besonders angetan, der meist liegend oder sitzend in Begleitung einer Maus dargestellt wird, seines unermüdlichen Reittiers. Deswegen, ob seiner Langsamkeit, seiner Nonchalance und seines lustvollen Hedonismus liebt man ihn, muss man ihn lieben, den Beschützer der Reisenden und Intellektuellen.

Das Taxi war bereits weitergefahren, doch ich konnte nicht mehr aufhören zu lächeln. Ganesha war mir, wie so oft, zu Hilfe geeilt. Das scharfe, schmerzende Licht des Mädchens hatte seine eigene Quelle gefunden. Zweifelsohne muss der Hinduismus als das religiöse Fundament ihres Paria-Daseins gelten und doch war und bleibt Ganesha ihr Gott, der Ursprung ihres Lichts und ihres Anspruchs, die Reise dieses Lebens zu bestehen. Die Rikscha war verschwunden und ich wusste, dass nun in meiner Tasche meine eigene kleine Statue ihren Rüssel reckte, als Zeichen der Wachsamkeit.

2. Ein Tag in Delhi

Zögernd trittst du in den ersten Tag und das Zögern nimmt nicht ab, wird stärker, durchdringender. Die Sanskrit-Schule liegt am südlichen Rand der Stadt, zwischen dem rau aufragenden Minarett des Kuttub Minar und der wegen ihrer marxistischen Gesinnung verschrieenen Hauptuniversität Delhis, der JNU, Jawaharlal Nehru University. Wie gewöhnlich… Guermantes hat ja immer zwei Seiten. Doch gab es diesmal keinen Zweifel, kein Ausloten beider Möglichkeiten, keinen finalen Syllogismus. Mein Lehrer hatte mir als Warnung auf den Weg gegeben, die eine Seite gänzlich zu meiden. Ein Minarett, wenn auch der »anderen«, »falschen« Religion zugehörig, war dieser aus dem Boden des Materialismus emporgewachsenen Ideologie mit ihrem heilsbringenden Gestus vorzuziehen. Erhöht die Welt den Konkurrenzdruck, verbünden sich manchmal sogar verfeindete Religionen und ein Brahmane zieht den Anblick eines kranzförmig in den Himmel zeigenden Moghol-Turms immer noch den roten Plakaten vor, mit ihren aus Hammer und Sichel gearbeiteten Psalmen. Die Richtung also war vorgegeben, ich durfte aus der Schule gehen und mich an die Straße, den Markt, den sich hinter der Schule öffnenden Park halten. Den anderen, der Schule schräg gegenüber liegenden Park mit seiner reichen ausufernden Vegetation durfte ich erst gar nicht betreten, da die asphaltierte Straße, die er säumte, geradewegs zur Universität führte. Ein großes geschwungenes schmiedeeisernes Tor kündigte sie zur Strasse hin an. Auf seiner Frontpartie war der Name der Institution auf eine Weise eingraviert, dass ich unweigerlich an jenes nur zu berühmte Tor vor Dantes Inferno denken musste. Gurujis Worte hatten Wirkung gezeigt.

Warum also das Zögern? Hatte ich mich doch gleich vom ominösen Tor abgewandt, obwohl mich seine Ruhe, seine Blumenpracht angezogen hatten. Vielleicht weil ich nun, von einer diffus wogenden Menschenmasse umgeben, nicht so recht wusste, wo es hingehen sollte? Allein das Queren der in jede Richtung zweispurig befahrenen Strasse dauerte 10 Minuten. Weit und breit war kein Übergang zu sehen. Allein das Wort ›Fußgängerübergang‹ in dieser Umgebung… Autos kaum größer als die alterschwachen, knatternden Rikschas huschten vorüber, fuhren elegant und ohne zu bremsen um die weiß-graue knochige Kuh herum, die gemächlich die Straßen entlangtrottete. Grüne Busse, von mehreren dicken gelben und roten Strichen umrandet, mit prangenden Om-Zeichen, Hindi-Schriftzügen und den üblichen Götterbildern ratterten vorbei, das Heck unter dem Gewicht der zu transportierenden Menschenmasse fast auf die Strasse gedrückt. Die Männer hatten den Frauen die meisten Sitzplätze mit den rostigen Genickstützen überlassen, nicht etwa aus besonderer Galanterie, sondern um sie traditionsbewusst jedweder schamlosen Annäherung zu entziehen. Sie selbst besetzten dichtgedrängt die Gänge und Eingänge. Hinten, auf der letzten Bank, saß - sicherlich schläfrig - der Controller und entwertete mit seinem Knipsgerät lässig die wenigen Fahrscheine, an die sein Arm heranreichte.

Am Straßenrand war das Treiben noch unübersichtlicher. Auf beiden Seiten waren Stände aufgebaut, die Früchte, Gemüse, Getränke, Haushaltsgegenstände, manchmal auch nur für einen europäischen Magen gefährlich anmutendes Zitronenwasser feilboten. Schneiderinnen saßen etwas im Hintergrund und nähten im Schatten eines Banyan-Baumes. Unter aufgespannten Regenschirmen, vor zusammengeleimten Spiegel-Splittern waren Friseure am Werk, indes der eine oder andere Schuster in der prallen Sonne auf Kundschaft wartete. Kinder, halbnackt, liefen kreuz und quer zwischen den Passanten umher, Frauen in farbigen Shalwar-Kamiz hasteten vorbei, den Blick starr auf ein ihnen allein bekanntes Ziel gerichtet. Die Männer, teils westlich gekleidet mit kurzärmeligen weißen Hemden und dunkelgrauen, von einem imitierten Designergürtel gehaltenen Hosen, teils traditionell im weißen Pyjama-Kittel, gingen langsamer, blieben stehen, lachten, diskutierten oder saßen einfach nur am Straßenrand in typischer Pose, die Arme ausgestreckt, die Ellenbogen auf die angewinkelten, zusammengedrückten Knie gelegt.

In den aufgewirbelten Staub spielte nun auch Blüthenstaub hinein: »Jede Menschengestalt belebt einen individuellen Keim im Betrachtenden. Dadurch wird diese Anschauung unendlich, sie ist mit dem Gefühl einer unerschöpflichen Kraft verbunden, und darum so absolut belebend.« Wie ein riesenhaftes unsichtbares Netz zog sich die allgemein gewordene Menschheit zwischen den Passanten hin. Die demographische Explosion Indiens wird einem hier vor Augen geführt, spürbar in der Multiplikation der Individuen, die zur Gattung werden, zur Veranschaulichung des von Novalis vorausgedachten absoluten Ich – dieses im Zwischenbereich angesiedelte Wesen. Das Individuum, man wird es ihm nicht absprechen, das heutige Idol des Westens, hatte die Gegenüberstellung mit der Dignität der Gattung bereits verloren. Die Allgegenwart des Göttlichen in tausend vorbeifahrenden, abgerissenen, verblichenen, funkelnden Bildern genauso eins geworden wie die menschliche Gattung, gründete das Ich, ließ es aufscheinen im Blinken des zahllos reflektierten Lichts. Und dieses Licht brach nun auch in den dunklen Raum zeitgenössischer abendländlicher Überzeugungen ein. Die Persönlichkeit ein Missverständnis. Deren Entwicklung, schlimmer noch, deren Realisierung, ein narzisstischer Wunschtraum aus einer unfruchtbaren Welt. Das farbige, multiple, schäumende Menschentableau war einfach zu überwältigend, als dass der Gedanke des vereinzelten Individuums hätte standhalten können. Den Ausweg hatte der Dichter ja auch schon vorgezeichnet, doch hatte er den Vorteil, die Kunst auf seiner Seite zu wissen. Noch einmal: das Individuum als reines Zufallsprodukt. Aus dem Zufall seiner Geburt lassen sich alle anderen ableiten, der seiner Überzeugungen und Leistungen, die Farbe des Saree wie die bei Regenwetter selbstsicher getragene Sonnenbrille, die Falte des Turbans wie die angeberische Aktentasche. Der Willkür jedoch kann man begegnen, man kann sie zerlegen im Unendlichen. Sie ließ sich auffangen im Netz dieser Straße, auf der die Sterblichkeit, zur Schau getragen, fortwährend in ihr Gegenteil überzugehen schien. Nie war menschliche Unzulänglichkeit stärker hervorgetreten, nie sichtbarer geworden. Doch gerade hierin trieb sie der Vollendung zu, ließ die Unsterblichkeit fühlbar werden, ohne die das Tableau menschlicher Versehrtheit unvollständig geblieben, unbestimmt dahin gelaufen wäre. »Die Welt wird dem Lebenden immer unendlicher – drum kann nie ein Ende der Verknüpfung des Mannichfachen kommen – « Die goldene Zeit, sie lief wie eine Tendenz an den Verknüpfungen des Netzes entlang, in den Strängen, die den schimpfenden Mangoverkäufer mit dem salutierenden Polizisten verbanden. Das Prinzip der Individualität lässt sich mit dem der Unendlichkeit nur verbinden, wenn es gemeinschaftlich getragen wird. Das Individuum, so wie wir es verstehen, taugt als Wurzel, aber nicht als Endpunkt. Es muss überwunden werden und genau das geschah an diesem Morgen vor meinen Augen, tausendfach überwunden von einem geteilten gemeinsamen Ich.

Ich war auf der anderen Seite der Straße angelangt und die Menschenmenge war noch dichter geworden. Nach links ging von der Straße eine enge Gasse ab, das eigentliche Zentrum des Marktes. Sie schien undurchdringlich vor Menschen. Links und rechts konnte man bruchstückhaft die Auslagen der Geschäfte erkennen. Plastikeimer, Seifenschalen, Plastikarmringe, Handytaschen lagen neben den pittoresken Gewürzsäcken, aus denen grelles Gelb, Rot, oder Grün hervorschienen und an die Umschlagseite eines Kochbuches erinnerten. Vor mir, am Eingang der Gasse, lächelte der zahnlose Mund eines lumpenbehangenen Bettlers das Universum herbei.

3. Ein weiterer Tag

Monate sind vergangen. Die Hitze ist gewichen und ein seidener kühler Nebel hat sich über die Hauptstadt gelegt. Konturen verschwinden, gehen ineinander über. Einst weiße, durch den Straßenschmutz ergraute Fassaden leuchten wieder, umgeben von jenem mysteriösen Schein, den die weiße Wintersonne aus der feuchten Atmosphäre hervorzaubert. Vor uns liegt der Shiva-Tempel. Drei nahe beieinander stehende konische Türme, deren zarte rötliche Cremefarbe kaum einen Kontrast zum hellblauen Himmel bildet, zeigen das Hauptgebäude an. Um sie herum drängen sich kleine Pavillons mit bauschigen Kuppeln, vielfach zur Terrasse hin geöffnet, als gelte es hier zu verweilen, zu ruhen, ehe die Macht der drei trotz ihrer geometrischen Dekoration massiv anmutenden Türme den Betrachter mitzieht nach oben, dorthin, wo kaum noch Öffnungen den Blick freigeben, und alles auf die zentrale glatt polierte Bronzekugel zuläuft, deren Glitzern, hoch oben, wie ein Versprechen wirkt, das der Tempel zweifelsohne einzulösen vorgibt. Vorne, am Haupteingang, brandet Delhis Leben, bricht sich jedoch am Tor und geht im umzäunten, baumumrandeten Inneren in Stille über. Motorräder stehen in schier endlosen Reihen an schiefen Zäunen, die der Last schon lange nicht mehr gewachsen scheinen. Links und rechts vom Hauptportal bücken sich Menschen den Wasserhähnen zu, reinigen sich, ziehen die Schuhe aus und übergeben sie einem Mann, der in einem Gitterhäuschen riesige Regale mit ihnen füllt. Kurz vor Betreten des Tempels werden lange Blumengirlanden mit weißem Jasmin und orangefarbenen Nelken gekauft. An einem mit roten Schleifen behangenen Wunsch-Baum vorbei geht es ins Innere, durch mehrere Säulengänge hin zum eigentlichen Zentrum, der Shiva-Statue, die in einem Alkoven hinter reichhaltig verzierter Absperrung thront und den Dienst zweier Priester wohlwollend entgegennimmt. Wie gewohnt lächelt der Gott, ein fernes, wissendes Lächeln. Sein langes geflochtenes schwarzes Haar wirkt wie ein doppeltes Echo. Zwar entspringt dem Kopf der Statue hier nicht der Ganges, doch die wallende Bewegung des Haares allein kündigt schon die Flußgöttin an, die sich in Shivas Haar verlieben wird. Und auch die Schlangen, die sich gefährlich um seinen Hals winden, wirken, als gingen sie aus der dichten Haarpracht des Hauptgottes hervor. Sogar der Mond hat Zuflucht gefunden im Haar des Gottes, in seiner universalen Dunkelheit, wo jedes Licht absorbiert wird, um wieder neu zu erstrahlen. In der rechten Hand hält er sein eigentliches Machtsymbol, den geschwungenen Dreizack, dessen Enden ähnlich wie die Türme des Tempels nach oben hin zusammenlaufen. Totenköpfe, Ketten aus Samenkugeln hängen um seine Brust, während vor ihm auf dem Steinfußboden der Linga ruht und seine eigentliche Essenz ankündigt, jene, aus der er hervorgegangen und zu der er zurückkehren wird, das absolute Wesen des Gottes, Shivatattvam. Shivas Wesen liegt jenseits seines Prinzips, der Zerstörung und der Wiedergeburt, dem erneuten Aufbau. In ihm läuft die Welt zusammen und doch liegt es im Jenseits der Welt, dort wo Genesis und Zerstörung zusammenfinden, Anfang und Ende zusammenfallen. Oben auf der Stirn blitzt sein drittes Auge, das – wie könnte es anders sein – Licht und Zerstörung gleichermaßen spendet, aus dem das Leben hervor- und auch wieder vergehen wird.

Schon längst hat das Gebet begonnen. Gurujis Worte verhallen im weiten Saal, während der Priester hinüberschreitet zum Gott, um ihm die Blumengirlanden umzuhängen: Nāgendrahārāya trilocanāya bhasmāngarāya maheśvarāya / nityāya śuddhāya digambarāya tasmai nakārāya namah śivāya (Ich verneige mich vor Shiva, dem Gott, der eine große Schlange als Kette trägt, der drei Augen besitzt, seinen Körper mit heiliger Asche einreibt, der unsterblich und rein ist, den die Himmelsrichtungen kleiden. Er ist wie die erste Silbe von ›Ich verneige mich vor Shiva‹.) Der Gott selbst ist sein eigenes Gebet. Er steht, obwohl nur ein Teil des hinduistischen Pantheons, für die höchste, reinste, immateriellste Form des Seins. Der Priester gibt uns zwei Girlanden zurück. Das Geben und Nehmen leuchtet ein. Wir legen einen kleinen Rupien-Schein vor den Altar und entfernen uns wieder. Während wir auf dem Marmorvorplatz des Tempels noch einige überlebensgroße Bilder aus dem Leben des offenbarten, also sichtbar gewordenen Shiva bewundern, mischt sich auch der deutsche Dichter wieder mit hinein. »Gott ist These und Synthese zugleich. Die Natur ist Antithese. Der Mensch und die Natur machen die letztere aus.« Auch hier gibt es kaum etwas zu widersprechen. Indien als Anwendungsbeispiel. Entstehen und Vergehen an jeder Straßenecke, wobei gerade die große göttliche These, zu der es ja der absoluten Essenz bedürfte, kaum noch sichtbar und dennoch spürbar ist. Shivas Blick beleuchtet das indische Schauspiel und liefert die in ihm sich fortwährend vollziehende Zerstörungsarbeit. Der Kreis schließt sich zusehends: Die Gottesgestalt als Spiegel der Straßenszene mit ihrer Grausamkeit, farbigen Vielfalt und ihrer Verknüpfungsmetaphysik. Man mag zu religiösen Botschaften stehen, wie man will, doch hier ließ es sich nicht leugnen: die Religion erklärte das Leben und das Leben die Religion. Draußen, auf dem Vorplatz des Tempels, kamen wieder die lärmenden Motorräder vorbei, flossen die Farben der Frauengewänder konfus ineinander, liefen Kinder barfuß über die aufgeweichten Straßen. Wären nicht die aufragenden Türme gewesen, der Tempel wäre untergegangen im menschlichen Gewimmel, so aber erklärte er es, stand da als Zentrum des Ganzen, als Erklärungsgrund der menschlichen Antithese, als Fanal einer ewigen Individualität.

In wenigen Stunden würde die Maschine nach Europa wieder abheben. Hinten, in Gurujis kleinem Tata-Auto, waren bereits die Koffer verstaut. Eine alte Bettlerin hatte uns erblickt und lief so schnell sie konnte zum Auto. Ihre wehenden Haare hatten sich der Farbe ihres weißen viel zu dünnen Umhangs angepasst. Trotz der Vormittagssonne fröstelnd streckte sie uns ihre Hand entgegen. Diesmal würde ich Gurujis Anweisungen widerstehen, mein restliches Geld weggeben, auch wenn es offensichtlich »falsch« war. Sie erblickte den roten Wollfaden, den man mir im Tempel um das Handgelenk gebunden hatte, und lächelte. Gab es da überhaupt Leid zu lindern? War sie nicht doch Teil dieses einen Individuums, das so offensichtlich aus Delhis Straßen heraussteigt, dass es sogar die Götter bestätigt? Wie eine Utopie, eine Propagandaphrase wirkt diese Vorstellung und doch, lag nicht gerade in ihr das große Geheimnis dieses oft zerrissenen, leidgeprüften Volkes? »Jede Menschengestalt belebt einen individuellen Keim im Betrachtenden.« Ich bekam diesen Satz nicht mehr aus dem Kopf, genauso wenig wie den Anblick des Gottes als vermeintlicher Inkarnation des Absoluten. Der Trick war zu schön um wahr zu sein. Bei so viel Synthese schien sich das materielle Leid auflösen zu lassen. Sie brauchte das Geld eigentlich nicht mehr. Der Gedanke an ihr dünnes Kleid, an die beunruhigende Meldung von der fallenden Temperatur in Delhi, an die Nachricht von den zahlreichen Toten, die bereits der Frost der letzten Nacht gefordert hatte, fiel kaum mehr ins Gewicht. Ich wollte sie noch einmal genau betrachten, als hielte sie eine Antwort bereit auf die Frage nach der wunderbaren Unsterblichkeit des gemeinschaftlichen Individuums, als würde das Lächeln in ihrem faltigen Gesicht etwas von Shivas gewaltigem Tanz erzählen. Doch sie war bereits in der um den Tempel immer dichter werdenden Menschenmenge verschwunden. Ich hatte gehofft, dass ich ihre weiße Gestalt länger würde verfolgen können, doch sie war untergegangen im Menschengewirr. Mit äußerster Vorsicht legte ich meine Blumengirlande in den Beutel mit den anderen Requisiten, die mir der Priester übergeben hatte. Das kleine Knäuel mit der roten Wolle, die braune Samenkette, das schwarze Armband gegen den bösen Blick, die kleine Aschepackung, einige geheiligte weiße Zuckerbonbons und natürlich Blumen. Ich würde dies alles mit zurücknehmen, quasi als Beweis dafür, wie sehr der Hinduismus mit seinen tausend Göttern den Menschen in Indien entsprach, wie sehr er sie selbst erklärte und wie sehr er für mich das Verhältnis von Mensch und Religion neu erfunden hatte. Guruji fragte mich noch, ob ich auch Ganesha nicht vergessen hätte. Wie könnte ich?