Suitbert Oberreiter
Umdenken auf breiter Ebene

Da sitzen wir nun also, wie die Brüderschaft des Lynkeus von heute, »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«, und schauen. Aber nicht Lynkeus scheint unser Patron, nicht unser Vorbild. Und nicht wie er schauen wir. Sondern, da wir unser Haus nicht verlassen, da wir lauern, dass die Beute uns ins Netz falle, wie die Spinne. Zur Falle ist unser Haus geworden. Nur was in ihr sich verfängt, ist uns Welt. Außerhalb ist nichts.
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen

Nun sollen wir also zum Aussterben verurteilt sein. Diesen Eindruck erhielt man jedenfalls, wenn man in diesem Frühjahr die Zeitungen zu dem Thema befragte. Fast schon logischerweise, möchte ich sagen, wurden wir im erstbesten Artikel beschworen, etwas im Sinne der bei uns ins Abseits geratenen, ausgedienten Vorstellungen von Ehe, Familie und Gemeinwohl zu unternehmen: dass es endlich an der Zeit sei, mehr Kinder zu zeugen. Die Idee konnte jedoch vor unseren Augen sogleich wieder zunichte gemacht werden, wenn man  zum nächsten Artikel fort schritt, nur um in Erfahrung zu bringen, dass »der Zug ohnehin schon abgefahren« sei, wir also in der Welt der Zukunft nichts mehr zu bestellen hätten, da ja bereits eine Generation auf dem Gebiet des Kinderkriegens »nahezu nichts geleistet« habe. Dieser Reflex genügte vielen wahrscheinlich schon, um das Thema schein-resignierend vom Tisch zu wischen. Für einige Wochen schien es die Nachrichtenwelt zu beherrschen – wenn man von ›beherrschen‹ überhaupt  reden darf. Das Wort ist hier übertrieben, denn man liest in kürzeren oder längeren Zeitabständen immer wieder nur sogenannte aufschreckende Artikel und Autorität beanspruchende Statistiken dazu. Das ist alles, was man tun zu können meint. Als Leser glaubt man bald, alles Wichtige in sich hineingesogen zu haben, also im Stand eines adäquaten Wissens über die eigene Situation zu sein, ohne dass dies in einem selbst auch nur etwas bewirken würde. Das scheint mir der Kardinalfehler in der Sache zu sein: Wir bekommen täglich schon unglaublich viel mitgeteilt – das Faktum allein ist uns nicht unbekannt – und alle ›wissen‹ ungefähr dasselbe. Der ›Erlebnis‹- und Darstellungsstil ist bereits weitgehend auf den universalen Verbraucher hin konditioniert und im Grund immer derselbe. Man nimmt das, was man in sich hineinliest oder -hört – ja was man selbst mittels stereotypen, unreflektierten Vokabulars auch ›in sich hineindiskutiert‹ – nicht mehr für etwas tatsächlich Neues, und sehr wahrscheinlich nehmen viele, die darüber druckreif reden zu können meinen, überhaupt nicht richtig wahr, was sie sagen. Zu kompliziert sind die Strukturen der Gegenwart und zu einfach die medienabhängige Präsentation der Menschenprobleme: Sie wird über sie gezogen wie eine Art Abdeckhaube auf  Zeit, die dem Ganzen ein zur gefälligen Ansicht fähiges Gesicht geben soll, bis sie wieder durch etwas anderes – nicht etwa Neues – ersetzt wird. An eine logische Kontinuität der Problembehandlung kann dabei ohnehin kaum zu denken sein, weder in der sich als wissenschaftlich etikettierenden Beschreibungsliteratur selbst noch in der Frequenz des öffentlichen Erinnerns des Problems. Es liegt in der Natur der modernen Nachrichtenaufbereitung und –übermittlung, dass vieles zum Vorschein gebracht wird, ja zur Kenntnis gebracht werden muss. Jedoch hat man dabei eher den Eindruck, dass selbst harte Fakten verschwinden, um gelegentlich wieder aufzutauchen. Das ermöglicht zwar ein längerfristiges Überdenken – im Sinn eines ›Brachliegens‹ – dieser vermittelten Ideen, die man mit neuem Material stützen und ausstatten kann, einfacher macht es die Sache jedoch nicht, sonst wüssten alle nicht nur dem Anschein nach über das demographische Problem Bescheid. Dies geht nicht etwa nur eine einzelne Gesellschaftsklasse an, sondern betrifft sämtliche Schichten der sogenannten angestammten Bevölkerung, die sich in vielen Punkten hilflos zeigt, da sie das Problem in seiner Totalität – und eine solche liegt zwingend vor – nicht hinreichend ›mitbekommen‹ hat, mit anderen Worten: weil sie sich vielleicht auch unbewusst dagegen sträubt, es ausreichend zu erfassen.

Das Problem wird ja nicht erst seit kurzem journalistisch ›durchgezogen‹. Man kann auf eine jahrelange Behandlung in Medien verschiedenster Art hinweisen. Es sind auch nicht etwa nur Unberufene, die auf die Gefahr aufmerksam machen, die hinter der bereits beharrlichen Kinderlosigkeit lauert. Wissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten und problembezogene Essays sind unbedingt vonnöten, schon allein deshalb, um eine theoretisch nachvollziehbare Ansicht der möglichen Phänomene und einen möglichst praktisch geführten Überblick über die Situation zu bekommen. Allerdings waren diese Arbeiten bisher nicht in der Lage, bei einem Großteil der vom Ausbleiben der Kinder betroffenen Bevölkerung nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, geschweige denn den notwendigen Konsens über Gestalt und Ausmaß der Bedrohung herzustellen. Einen Konsens, der wirksamer als ein Befehl oder Aufruf – etwa nach der Formel »Bringt mehr Kinder zur Welt!« – eine Änderung des Verhaltens einzuleiten versucht und eine wichtige Vorbedingung einer Verhaltensänderung anspricht, nämlich den Kinderwunsch unter der jungen Bevölkerung (und vielleicht nicht nur unter dieser) zu urgieren oder wieder zu wecken. Ergründbar wird dieser Kinderwunsch trotz aller angewandten Analysen schwer oder gar nicht sein. So etwas ist dem Menschen eher ›eingegeben‹ – um nicht zu sagen ›angeboren‹. Selbst wenn der Wunsch nach Kindern, was ja durchaus sein könnte, aus vielen Komponenten resultiert, so kennt unsere Erfahrung nur das Resultathafte, eine gewordene Ganzheit, die wir zu sehen bekommen, wenn wir zum Beispiel sagen, jemand sei kinderliebend, sei eine gute Mutter oder ein guter Vater. Äußert ein Mädchen, sie wünsche sich ein Kind von einem Mann, den sie liebt, dann ist dies Ausdruck eines Wollens, das immer hoch angesehen war und bei dem Mann eine besondere Achtung vor diesem Mädchen hervorrief, das uns jedoch auf Grund trivialer Zivilisationszwänge oder gesellschaftlich wirksamer Überrumpelung (durch Werbeunternehmungen aller Art) allzuoft bereits abhanden gekommen ist.

Experten wirken im Grunde einschränkend auf das ›einfache Volk‹, und nicht nur auf dieses. Es wehren sich zum Großteil die sogenannten Studierten – schon aus dem einfachen Grund, weil sie das Prestige des Fachs, das sie studiert haben, nicht ungenützt ›verwittern‹ lassen, sondern mit Hilfe ihrer Person zur Geltung bringen wollen. Der zum Experten Ernannte (oft auch von sich selbst) wirkt mit seinem Anspruch auf Definitionsmacht und Unfehlbarkeit (beides fragwürdige Attribute und Funktionen mit potentiell schweren Folgen für die Betroffenen) im Sinn der partiellen Entmündigung all jener, die seinen engeren Erfahrungs- und Wirkungskreis betreffen, und denen er in der Not des Erklärungsbedarfs etwas vorzumachen hat – wie er glaubt. Der Geltungsbereich der Experten wird heute allgemein zu hoch veranschlagt. Auch das ist ein Resultat der versuchten Ubiquität oder Medienpräsenz, hat aber selbstverständlich seinen Urgrund in der menschlichen Arbeitsteilung. Nicht jeder Experte ist ein Scharlatan und berät die Menschheit falsch. Allerdings ist es nicht immer leicht für den Unbedarften, die Echtheit der Expertenaussagen über sein Gebiet zu prüfen. Der Experte ist den ›einfachen Menschen‹ suspekt und unangenehm, so dass sie ihm gern aus dem Weg gehen.

Im Fall des Geburtendefizits sieht sich der ›einfache Mensch‹ genötigt, das Wissen der Experten auf dem Weg über die Medien (Zeitung, Radio, Fernsehen; die Computernachrichten werden noch vergleichsweise wenig genützt) zu akzeptieren, da er selbst zu wenig Schlüssiges weiß. Er kann und wird sich aber auch von dieser beunruhigenden Expertise abwenden und in seiner Lebenspraxis fortfahren, als existiere das Problem nicht. Diesen Weg dürften ziemlich viele einschlagen, weil sie die gemeinhin ›schnoddrige‹, belehrende Art unserer  gesellschaftlichen Vormünder zu ihnen zu sprechen zutiefst verabscheuen.

Bei Jean Paul, der bekanntlich ein für seine Zeit unerhörtes Wissen in sich vereinigte, finden wir noch in unaufdringlicher Weise, da literarisch dargeboten, Erkenntnisse verarbeitet, die uns in ihrer heute fast schon nicht mehr nachvollziehbaren Natürlichkeit ansprechen, mit der sie stilistisch aufbereitet sind. Die ›kleinen Verhältnisse‹, die in vielen seiner Erzählungen im Vordergrund stehen, werden aber nicht etwa nur als solche (und nicht mehr als diese) verstanden, sondern geben vielmehr ein scharfes Abbild, eine bündige Abstraktion jener Kraft des Lebendigen, die es uns ermöglicht, in einer Umgebung mit gesellschaftlich bedingten Widrigkeiten zu überleben. Jene anscheinend so beschränkten und ständig Suppliken schreibenden Schul-, Kanzlei- und Kirchengemeindeexistenzen – oder Rumpf-Familien, die in halben Gartenhäusern ihr Unterkommen gefunden haben und deren Zukunft keine ›Sicherheit‹ in unserem heutigen Sinn verheißt; Mütter die auf die Heimkunft ihrer Söhne warten und deren Erwartung aus nichts mehr als der Gewissheit der beginnenden Schulferien, einer überbrachten Nachricht und der Hoffnung auf einen gelungenen Kuchen gespeist werden; man könnte von halben Märchenexistenzen reden – entwickeln entschieden mehr an Lebensgeist, als uns dies heute selbst unter weit günstigeren Verhältnissen gegeben zu sein scheint. Da diese versunkene kleine Welt durch das ›Quarzglas des Humors‹gezeigt wird, haben ihr Inhalt und seine Darstellung die Chance einer weiten Verbreitung dank interessierter Leserschaft und entsprechender Bildung nützen können – im Unterschied zu heutigen geisteswissenschaftlichen Arbeiten, die ihre Adressaten nicht oder nur schwer erreichen. Der literarische Humor, den der romantische Schriftsteller pflegte, ist das Abbild einer besonderen, damals weit verbreiteten Lebensauffassung, die aus den Zwängen und Unstimmigkeiten der menschlichen Existenz aufstieg – offensichtlich, um ihr eine neue und angenehme Dimension im Sinne der Lebensrettung zu verleihen. Heute, selbstverständlich als das Resultat einer Entwicklung in der Zeit zu sehen, in der sich die Wissenschaft zu stark von der gängigen Lebenspraxis wegbewegt hat, hält sich diese Art des kreativen Humors in Deutschland nicht mehr, und auch der ledige Sinn und das bloß äußerliche Verständnis für ihn (also eine ohnehin eher passive Art, die nur die Engegennahme von  Früchten eines besseren Vorfahren bedeuten kann) sind den Menschen mehr und mehr abhanden gekommen. Der Humor als mögliche Erkenntnisquelle wird disqualifiziert und allenfalls lässt man eine matte, herbe, degenerierte Spielart desselben noch gelten, die in ephemeren Witzblättern und gesonderten Kolumnen der Tageszeitungen ihre Existenz behaupten darf; wahrscheinlich, weil es doch nicht ganz ohne Humor gehen kann.

Es sei hier angemerkt, wie nicht nur mir auffiel, dass besonders unter Geisteswissenschaftlern aber auch unter Schriftstellern –Leuten also, die ständig in engster Weise mit der Sprache und ihrem professionell betriebenen Fallenstellen und all der subversiven Art, die Wörter zu gebrauchen, zu tun haben müssten –  seit Jahrzehnten in der Überzahl eigentlich nur mehr Raum und Veranlassung zum Witzeln und zum Zweck einer momentanen originellen Erscheinung, jedoch nicht mehr zu einem vollkörnigen Witz oder wenigstens Grund zu einem schallenden Gelächter vorhanden ist. Zu abgegriffen und in Stereotypie verhaftet ist das vorhandene Material zur Hand, zu geschäftig und offensichtlich zu lebensfern die Verwaltung der erlaubten Ausdrucksmöglichkeiten, die bereits eine Satire unmöglich machen. Sprachschatz nannte man das früher, heute klingt das Wort wie ein Anachronismus, weil seine allgemeine Verwendung primitiv geworden ist und bei jedem Hinblicken – ich übertreibe damit absolut nicht – den Eindruck einer intellektuellen Verwüstung hinterlässt. In dieser Sprache allerdings sollte sich unsere Phantasie gegenüber unserer Lebenswelt spiegeln und gar zu einer gemeinsamen Aktion formieren – wenn uns noch an derartigem gelegen ist. So wie wir die Kinderlosigkeit in unserer Sprache abbilden, so werden wir auch im einzelnen, jeder für sich, an das Problem herangehen, sie in Zukunft einzudämmen und hoffentlich zu verhindern. Die Entfremdung der Menschen ihrer Sprache gegenüber ist nicht nur ein Schlagwort; sie zeigt sich an der Behandlung von Kardinalproblemen wie diesem nur allzudeutlich.

Schon die Verdrängung der Regionalismen, von bestimmten Verlagen in der Bundesrepublik praktiziert, kommt einem Anschlag auf die Freiheit des sprachlichen Ausdrucks gleich und entspringt bestenfalls einer akademischen Gedankenlosigkeit, müsste man doch wissen, dass solche herbeigeführten ›Regelungen‹ oder Unterlassungen sich langzeitlich negativ auf die Betroffenen auswirken. Diese versuchte sprachthematische Verhinderung – sich auszudrücken, wie man sich ›zu Hause‹ ausdrückt (also ein sprachliches ›Gewohnheitsrecht‹ verletzend) – ist nur eine der vielen Verhinderungen und Unmöglichmachungen, die uns die Gegenwart ins Haus setzt. Von solchen werden seit Jahren immer wieder die einen oder die anderen als Verursacher der steigenden Kinderlosigkeit der Deutschen und deren Zeugungsmüdigkeit von Experten aller Art im Detail untersucht und öffentlich genannt, ohne dass man aber daraus schlüssig würde, was es nun eigentlich wirklich ist, das uns ›verhindert‹.

Ein Schlagwort ist die Kinderfeindlichkeit, leicht auf alles anzuwenden, allerdings schwieriger zu beweisen, was man als eine solche in einer großen Gemeinschaft von Fall zu Fall ansehen soll. Da es an finanzieller Zuwendung und Ausstattung nicht so sehr fehlen kann, muss es sich um etwas anderes handeln.

Sind es die ruhebedürftigen, in Senioren umbenannten Alten, die sich täglich in ihrem Nickerchen nach Tisch belästigt fühlen, wenn Kinder nebenan Lebensäußerungen von sich geben, wie sie es möchten? Tatsache ist, dass Kinder - besonders in Neubauten - den darunter Wohnenden den Eindruck von ›tanzenden Derwischen‹ vermitteln können. Das lässt allerdings den Gedanken aufkommen, dass unsere Empfindungen stark konditioniert sind durch eine industriell und kaufmännisch geförderte Billigbauweise, die uns zwingen will, uns vorsichtig und ruhig wie durch Leiden geschwächte Gäste in Kurhäusern zu bewegen. Für jeden, der in Wien Schuberts Geburtshaus besichtigt, stellt sich fast wie von selbst die Frage, wie eine Familie mit fünfzehn Kindern in solch einer Wohnung existieren konnte. Dort herrschte ganz bestimmt keine gedrückte, depressive Stimmung, wie sie uns in modernen Kasernierungsbauten mit hohen Einrichtungs-Standards entgegenschlägt und die man heute nicht selten ins Feld führt, wenn es darum geht, Gründe für die anhaltende Geburtenschwäche zu suchen. Zu nennen wären die Auswüchse der 68-er Generation, die nicht nur eine Art hedonistischer, autistischer Selbstfixierung pflegte, sondern es noch dazu verabsäumt hat, ihrer Kindergeneration grundsätzliches kulturelles (Bildungs-)Wissen – im Sinne von Tradition – zu vermitteln,  wodurch diese früher als selbstverständlich geltender Wertekanons weitgehend verlustig gegangen und daher in diesem Sinn orientierungslos geworden sind. Man bedauert ferner die fehlenden Strukturen für eine effiziente Kinderbetreuung, da auch die Entfremdung unter Familienmitgliedern sowie gegenüber den nächsten Nachbarn stark um sich gegriffen hat. Während noch bis in die siebziger Jahre regelmäßig Filme und Fernsehserien zu sehen waren, in denen die Familie entweder eine dominierende Rolle spielte oder wenigstens noch als starker Hintergrund diente, so ist diese Erscheinung seither anderen Formen der Vergesellschaftung gewichen, in der sich die fortschreitende Individualisierung und folgerichtig die Isolierung des Menschen in größeren Massen deutlicher zeigt. Man verdächtigt die Deutschen ferner eines latent antiquierten Frauenbildes, das möglicherweise noch vom Mutterkreuz-Ideal der Nazis geprägt sei und daher keine außerhäuslichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten für berufstätige Frauen vorsehe. Darüber hinaus macht sich ganz offen der vulgäre Materialismus breit, innerhalb dessen das gesunde Gedeihen von Kindern als unmöglich angesehen wird. Ich würde diesem letzteren Befund auch persönlich zustimmen, weil eine solche Verhaltensweise den Menschen von den naturgegebenen Bedingungen der Weltexistenz abnabelt und ihn in die Vereinsamung treiben muss, also keine gute Perspektive für heranwachsende Kinder bietet.

Der Verlust christlicher Familien-Werte, die Kindern einen gewissen Schutz garantierten, ist nicht zuletzt aus Misstrauen gegenüber den Vertretern der wohlbestallten Amtskirchen erfolgt, die sich in ihrer denkmalpflegerischen Sorge um ihre Kirchen- und Klostergebäude der Finanzmacht anbiederten, sich aber um die seelsorglichen Nöte nicht in dem Maß, in dem es notwendig gewesen wäre, gekümmert haben. Die Geistlichen sind überdies in der letzten Zeit zahlenmäßig in Bedrängnis geraten, und es ist fraglich, wie sie auf die – gerade auch von politischer Seite initiierte Neuorientierung auf der Suche nach kirchlichen Werten (die gerade die politischen Ziele unterstützen sollen) – wirksam reagieren können, wenn ein Gutteil der Intellektuellen nicht auf ihrer Seite ist. Eine Tatsache, die in solchen Belangen gern ungenannt bleibt, ist, dass in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts der Anteil an der Bauernschaft in der Bevölkerung – traditionell stark kirchlich organisiert – so drastisch zurückging, dass nicht nur eine gewaltige (von vielen dennoch unbemerkte) Umschichtung der Bewohner ländlicher Gegenden, sondern auch ein regelrechter Ausverkauf bodenständiger Kultursysteme und Einrichtungen stattfand. Diese Systeme hatten selbstverständlich auch den Nachwuchs der Bauernfamilien zum Gegenstand und regelten das gesamte familienorientierte Erziehungsdenken. Ein Anreiz der Bauern, Kinder zu haben, war schließlich auch die potentielle Arbeitskraft ihrer Kinder. Man soll nicht vergessen, dass der nach und nach sich vollziehende Ausfall dieser Systeme in der sich arbeitsmäßig umstrukturierenden Bevölkerungsschicht auch einige Unordnung in der Demographie der Länder hinterlassen haben muss, die anfänglich noch durch Beibehaltung der Gewohnheiten abgefangen werden mochte, jedoch in der darauffolgenden Generation bereits zur merklichen Abschwächung der Geburtenrate führen konnte.

Die neueste Zeit, deren Anbruch man sehr optimistisch und mit Hoffnung auf noch bessere Zustände (als man sie seit den sechziger und siebziger Jahren kannte, die allerdings in Mitteleuropa als Zeiten der politischen Spannungen zwischen Militärblöcken in die Geschichte eingegangen sind und folglich auch den Pessimismus unter der Bevölkerung geschürt haben) 1989 noch gefeiert hatte, enttäuschte durch die Krise der Arbeitslosigkeit, die Europa seither nicht mehr los wurde und die sich folgenreich für die weitere Nachkommenschaft auswirken kann, weil sie eine Verarmung der heutigen Generation um die Dreißig nach sich zieht, welche die offensichtlichen Verlierer der neuen Umverteilung des unbeständigen Kapitals sind. Es ist daher sehr leicht möglich, dass der Kinderwunsch einem weiteren Abschwung unterworfen sein wird, besonders wenn das eintreten sollte, was Amerika von den Europäern, besonders von den Deutschen, an Reformen fordert.

Blickt man über die Grenze nach Frankreich, so wundert man sich über den Stand der Dinge dort: wo es tatsächlich von Kleinkindern nur so wimmelt und fast alle jungen Frauen berufstätig sind. Drei bis vier Kinder sind hier keine Seltenheit, ja sie sind sogar ein Zeichen der ›upper class‹, die sich Au-pair-Mädchen, Haushaltshilfen und größere Wohnungen leisten kann. In Deutschland werden Kinder sofort als potentielle Verarmungsfaktoren gesehen, und es wird gleich statistisch zu errechnen versucht, welche Beträge für sie bis zum Abitur aufgewendet werden müssen – lauter Posten, die der Durchschnittsdeutsche lieber in bausparfinanzierte Eigenheime, Weltreisen und Autos der Oberklasse investiert. Dabei – um wieder nach Frankreich zu blicken – wenn es um das Wohlbefinden und die Gesundheit der Frauen geht, machen junge Französinnen mit ihrer Kinderschar (man beachte: fast alle berufstätig!) einen wesentlich gepflegteren, fröhlicheren und ausgeglicheneren Eindruck als die jungen deutschen Frauen, die ständig über irgend etwas jammern und immer gehetzt, müde und wie es so schön heißt: ›geschafft‹ wirken. In Frankreich wird das Thema kaum öffentlich diskutiert – Kinder hat man eben – oder auch nicht. Aus.

Absichtlich schreibe ich hier ein wenig leicht über die Dinge hinweg, denn es geht mir an dieser Stelle in erster Linie nicht um die Präsentation harter Fakten. Ich wollte auf  das Lebensgefühl aufmerksam machen, das hinter dem Phänomen des Kinder-Habens oder Kinder-Verweigerns mit allen seinen Nebenerscheinungen steht. Das Lebensgefühl wird sicherlich von jedem aufmerksamen Reisenden wahrgenommen, geschätzt und ausgekostet – und von der heutigen Tourismuswirtschaft mit ziemlichem Erfolg vermarktet. Somit beansprucht es einen Realitätswert für sich. Selbstverständlich ist es nicht eindimensional zu erfassen, und es wird kaum zu ergründen sein, worauf es letztendlich zurückzuführen ist. Es lässt allerdings den Schluss zu, dass die Beziehungen der Menschen zueinander mit ihm einen Regelmechanismus erhalten, der sie in den Stand versetzt, schwierigere, hochkomplizierte – letztlich nicht definierbare – Dinge und Aufgaben, die für die Allgemeinheit von enormer Wichtigkeit sind, gemeinsam zu lösen. Und das, ohne viele Worte verlieren zu müssen. Eine stark kultivierte Natur also. Lebensgefühl ist, das sei hier betont, ein völlig deutsches Wort; im Französischen ist es nicht bekannt und besitzt dort auch kein Äquivalent. Man bedient sich offensichtlich dessen, was man nicht nennt, das man jedoch nichtsdestoweniger in sich trägt. Es soll hier nicht einmal der Versuch gemacht werden, auf eine deutsche Adaption des französischen Modells anzuspielen, denn es leuchtet ein, dass ein solches Problem wie das eben besprochene jedes Volk für sich in der für es selbst plausibelsten Weise lösen muss. Lernprozesse sind jedoch nicht ausgeschlossen. Dass es sich um ein baldiges Umdenken auf breitester Ebene wird handeln müssen, wollen wir jetzt schon in Aussicht gestellt haben.