Gilles Boileau
Der alte Mann und seine Nahrung –
Lektionen des Mythos

Die demographische Situation Deutschlands ist ein extremes Beispiel für eine bedenkliche Entwicklung in der westlichen Welt. Die Zukunft ist hier auf eine Weise gefährdet, an die man so kaum je gedacht hätte, vielleicht auch nicht denken wollte. Deutschland partizipiert an einem ökonomischen Fortschrittsmodell, das letztendlich auf dem Bestreben nach Konsum basiert. Dieses Modell, wie sich nun zeigt, widersetzt sich einer Dynamik der Akkumulation, die durch Mäßigung Zukunft ermöglichen würde. So modern diese schematische Lagebeschreibung aber auch anmuten mag, so enthält sie doch Faktoren, die sich im Durchgang durch einige Texte der chinesischen Antike weiter aufhellen lassen. Es sind dies Faktoren, die mit der Gabe, den rituellen Grenzen des Konsums und dem Verhältnis der Nachgeborenen zu den Ahnen zu tun haben. Das Problem, das ich hier behandeln werde, ist das Verhältnis unterschiedlicher Gesellschaften zum ›Vorher‹ und ›Nachher‹. In dieser Perspektive möchte ich die heutige westliche Welt mit der Situation kontrastieren, die in einer Anzahl von Texten des archaischen China aus der Zhou-Dynastie (11. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) bezeugt ist.

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Die soziale und symbolische Ökonomie der Zhou-Dynastie beruht auf dem Ritus. Dieser findet nicht Anwendung auf jeden, sondern nur auf Angehörige des Adels. Das Volk bleibt ausgeschlossen. Der Adel ist als Netzwerk von Verbindungen und Austauschmöglichkeiten organisiert, in dem die Stelle eines Individuums durch die Fähigkeit markiert ist, sowohl die Gaben des Höherstehenden zu empfangen als auch dem Untergeordneten Gaben zukommen zu lassen. Das Volk, von dem es heißt, dass der Ritus nicht bis zu ihm reiche, ist von einem der Glieder des Gebens ausgeschlossen. Es kann empfangen, nicht aber geben. Außerdem ist es nicht Glied der Kette, durch welche die Gegenwart der Vergangenheit (der vergangene Vorfahre) mit der Vergangenheit der Gegenwart (der Gegenwart als Vorbereitung auf den Zustand des Vorfahren) verbunden ist.

Der Ritus vereinigt den Adel in einem Geflecht asymmetrischer Gaben, das durch Rechte und Verpflichtungen strukturiert ist. Das Recht besteht darin, Gaben darzubringen und als Folge daraus Vorfahren zu haben. Die Verpflichtung besteht darin, dem rangmäßig Niedrigeren etwas darzubringen. Die so geregelte Großzügigkeit bezeugt die Zugehörigkeit zu einer Ordnung, die sich aus dem König und seinen Vorfahren herleitet, und diese Verpflichtung ist es, die den Empfänger der Großzügigkeit von oben in eine Position versetzt, die derjenigen des Gebenden analog ist. Die asymmetrische Gabe (insbesondere die Gabe bzw. Schenkung von Nahrung) bildet den Kern der zeitlichen Gliederung, durch die Vergangenes (Vorfahren) und Zukunft (Nachkommen) verbunden sind. Der Verpflichtung zu geben (zugleich der Macht zu geben) entspricht dabei, dass derjenige, der etwas erhält und zu geben vermag, nicht alles verbrauchen kann. Auf der anderen Seite kann derjenige, der etwas erhält und nichts weiterzugeben vermag (das Volk, das buchstäblich ›von der Hand in den Mund‹ lebt), alles, was er erhalten hat, verbrauchen.

Die heutige westliche Welt ist demgegenüber von einem Denken beherrscht, das den Menschen auf die Rolle des Konsumenten reduziert. Dies zeigt sich einerseits in der Abwertung des Vergangenen als Vergangenheit, indem es nämlich zu etwas Konsumierbarem wird, andererseits durch das Einfrieren oder die Negation der Zukunft, insofern sie notwendig zur Vernichtung und zum Tod führt. Mit dem Tod erst kommt der Konsum an ein Ende.

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Was können hier die Texte des alten China lehren? Welcher Frage entspricht die Lösung, die sie anbieten? Es handelt sich um die Frage nach der Übertragung, die zwischen Vorfahren und Nachkommen statthat.

Die Übertragung kommt allein denen zu, die empfangen und geben, und wird denen verweigert, die nur empfangen können. Diese letzteren, die sogleich alles verbrauchen, was ihnen allein deshalb zur Verfügung gestellt wird, damit sie sich für den Augenblick sättigen können, sind im selben Moment der Möglichkeit beraubt, Vorfahren zu sein – und somit auch Nachkommen (vgl. z.B. Lĭjì, Shisanjing Ed., 49.376 und 23.240; Yili, Kap. Xiangsheli, Shisanjing Ed., 11.52).

Während eine innerhalb der Adelsklasse empfangene Gabe die Gelegenheit bietet, ein Netzwerk asymmetrischer Verpflichtungen zu schaffen, in dem jedes einzelne Netz das ursprüngliche Netz, das den König mit seinen obersten Lehnsherren verbindet, spiegelt und auf diese Weise die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Beziehung anzeigt, setzt die Weitergabe von augenblicklich und gänzlich zu konsumierenden Gütern an diejenigen, die außerhalb des Ritus stehen, den, der diese Güter gibt, zu denen in ein disjunktives Verhältnis, die als Kollektiv zusammen genannt werden und doch gleichzeitig anonym und isoliert sind (also außerhalb des durch den Ritus geschaffenen Netzes stehen). Es sind diese Anonymität und dieser Reduktionismus, die sie zur gesichtslosen Masse machen.

Die heutige Welt kennt dieses Problem der Übertragung als Koexistenz zweier gegensätzlicher Praxen: 1) als ihre Bewerkstelligung oder ihren Erhalt durch die Familie mit der Perspektive einer Übertragung auf die Zukunft hin (Kinder); 2) als Erscheinen eines Individuums, das keine anderen Bezugspunkte kennt als einerseits das längstmögliche Überleben (geleitet vom Phantom der Unsterblichkeit) und andererseits die Konsumgüter, deren Erwerb es erstrebt. Die Dynamik dieses Konsumhungers erinnert geradezu an ein Schwarzes Loch, das alles in seiner Reichweite verschlingt. Er markiert einen fortgesetzt destruierenden Endpunkt, der jede Art von Austausch unmöglich macht. In Reinform gibt es diesen absoluten oder, wie ich ihn nennen will, mythischen Konsumenten freilich nicht. In vielen Bildern aber, die unsere Welt überfluten, zeichnen sich seine Züge deutlich genug ab.

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Als Lösung (oder Anti-Lösung) für das Problem der Übertragung kann der mythische Konsument auf folgende Weise dem alten China gegenübergestellt werden:

Chinesische Antike:
– Adelsklasse, die als einzige von der Normativität der Riten betroffen ist. Allein der Adlige verbraucht nicht alles, um auch geben zu können; als Nachkomme hat er Vorfahren und ist selbst virtuell ein Vorfahre.
– Volk, das klassenlos ist und außerhalb der rituellen Normen steht. Es verbraucht alles augenblicklich und ohne Einschränkung; es hat weder Vorfahren noch Nachkommen.

Moderne Welt
– Mythischer Konsument, der zwar nicht in Reinform existiert, aber als äußerste Projektion des normativen Ideals des Konsums fungiert. Der mythische Konsument konsumiert alles, wenn auch nicht wahllos. Er ist weder Vorfahre noch Nachkomme.

In der modernen Welt gibt es kein genaues Äquivalent für die genannte Klassenlosigkeit im alten China. Der mythische Konsument steht nicht in struktureller Opposition zu irgendjemandem. Er schließt per definitionem alles ein, indem er alles konsumiert, während im alten China diejenigen, die zu geben vermögen und diejenigen, die allein empfangen können eine Einheit bilden, in der die Glieder sich wechselseitig bestimmen.

Im Hinblick auf den Staat und aus der Perspektive der Kette der Gaben im alten China ist sorgfältig zwischen denen, die zu geben vermögen (und in ihrem Konsum zurückhaltend sind) und denen, die das nicht können (und alles sofort und sogleich verbrauchen) zu unterscheiden. Die Beziehung dieser verschiedenen Klassen auf den Staat offenbart sich in der Behandlung, die sie von ihm erfahren. So heißt es im Buch Lĭjì: »Der Ritus steigt nicht bis zum Volk hinab, die Strafe erreicht nicht die höheren Beamten.« (Lĭjì, Kap. Qulishang, Shisanjing Ed., 3.21). Die Zugehörigkeit zum Netz des Adels (der eingeschränkt ist in seinem Konsumverhalten) ist von einer Zurückhaltung der obersten Autorität gegenüber den Mitgliedern dieses Netzes begleitet. Umgekehrt entspricht der mangelnden Zurückhaltung im Konsumverhalten eine Ausdehnung der Strafmaßnahmen.

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Wie stellt sich der heutige mythische Konsument im Vergleich zu diesen alten Gegebenheiten dar? Der mythische Konsument ist durch die Fähigkeit zu uneingeschränktem Konsum definiert, ohne dass sich ihm die Frage stellte, ob dem anderen etwas zu geben oder im Konsumverhalten Mäßigung zu üben sei. Er geht in seinem Verhalten also bis an die Grenze, an der er gemäß der mythischen Ordnung nur noch die unmittelbare Realisierung aller seiner Möglichkeiten ist, und seien es Möglichkeiten der Zerstörung. In diesem Verhalten sehe ich besonders für zwei Bereiche Gefahren.

Einerseits ist der Konsument auf einen fortdauernd unvollendeten Akt reduziert, da der ›ideale‹ oder mythische Konsum kein Ende kennt. Ein Produktionssystem, das allein auf Konsum ausgerichtet ist, zielt zudem auf einen zukunftslosen Reichtum, eben einen, der zur unmittelbaren Zerstörung bestimmt ist, zur fortwährenden Herstellung des Augenblicks des Konsums. Als instantane Verwirklichung aller seiner Möglichkeiten vernichtet der so beschaffene Reichtum Zukunft.

Der zweite Bereich kann durch dieselben antiken Texte erhellt werden, die bereits oben für eine erste Überlegung herangezogen wurden: Die Kette der Gaben innerhalb der Klasse des Adels beginnt mit dem König, der Quelle der Reichtümer (aufgrund der Gnade seiner Vorfahren), welche als Gaben dazu dienen, Verbindungen und Verpflichtungen zu schaffen. Die Texte erwähnen nun die Möglichkeit, dass der König zu seinem eigenen Nutzen die Reichtümer, deren Quelle er nach dem Gesagten ist (als zweiter, nach seinen Vorfahren), einbehalten könne, eine Möglichkeit, die heftig kritisiert wird (vgl. Buch Lĭjì, Kap. Jitong, Shisanjing Ed., 49.376). Diese Texte spiegeln eine ganze Reihe von historischen Veränderungen wider. Für meine Zwecke ist vor allem die Logik, die die genannte Kritik stützt, von Interesse.

Die Einbehaltung des Reichtums durch den, der auch dessen Quelle ist, blockiert das System als ganzes. »Die Quelle«, so heißt es, »versiegt« und der König kommt außerhalb des Systems zu stehen. Was er zur Verfügung hat, bleibt allein ihm verfügbar. Dieses Einbehalten scheint seine Macht, die Macht eben des Gebens, zu stärken. Doch es führt zu deren Zerstörung, zum Schwinden ihrer Legitimität. Wenn die Macht nicht länger diejenigen verpflichtet, die ihr in der Situation des Gebens unterworfen sind (indem sie alles von ihr aufgrund der Teilhabe an ihrer besonderen Aktivität empfangen), so zwingt sie sie dazu, selbst zu einem Außerhalb des Systems zu werden. Da sie nichts mehr empfangen, können sie auch nichts geben. Sie werden damit aller Vorfahren und Nachkommen beraubt. So gesehen stellt der mythische Konsument gleichfalls ein Systemaußen dar, da sein unvollendeter Akt per definitionem weder etwas voraussetzt, das ihm vorangeht und von dem er abhängen würde, noch etwas, das ihm folgt und dessen Basis er wäre.

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Der Augenblick des Konsums erfordert die Erhaltung des Konsumenten. Dieser kann in seinem Sein nur in der Bewegung fortdauern, die seine Sterblichkeit negiert, was allein in Bezug auf etwas, das nach ihm kommt, Sinn macht. Nun kennt der Konsum aber kein Nachher. Er erfordert die Herstellung von Reichtümern, deren Sinn es ist, zerstört zu werden. Ganz genauso wie das Überleben des mythischen Konsumenten die Zerstörung von etwas erfordert, wird auch sein physisches Überleben, als Folge dieses aufbauend-zerstörenden Augenblicks ohne Ursprung und Bestimmung, für ihn zwingend. Wenn er kein Nachher kennt, so deshalb, weil dieses Nachher ihm zukommt und nicht dem Anderen. Folglich konsumiert er, so wie er auch den Reichtum-um-der-Zerstörung-willen konsumiert, das Andere, das in der Zeitordnung erst nach ihm kommt.

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Wenn man die Frage der Übertragung – also des Übergangs des Lebens oder des Glücks auf die Nachkommen in der Weise, dass sie ihrerseits die Möglichkeit haben, als Vorfahren zu dienen – stellt, so sieht man, dass sie nicht ohne Verzicht auf das eigene Glück oder Leben erfolgt. In vielen Fällen wird der Verzicht durch eine Rangerhöhung kompensiert; allerdings erfolgt diese Rangerhöhung erst post mortem. Für unseren mythischen Konsumenten kann diese Kompensation nicht existieren, da sein Sein vor allem als ein Sein-für-den-Konsum bestimmt ist. Mit anderen Worten: Vergangenheit und Zukunft laufen in ihm zusammen. als Alpha und Omega des Universums. Das Produzieren (ein Vorher bzw. das Alpha), das ein Produzieren um des Konsumierens, also des Zerstörens willen ist, erstreckt sich direkt auf das Omega, das keineswegs einen Endpunkt darstellt, da eine Erfüllung unvereinbar mit dem Sein-für-den-Konsum ist. Infolgedessen existiert keinerlei Intervall zwischen einem Ausgangspunkt, der als ein nicht abgeschlossenes aber versunkenes Vorher konzipiert wäre, und einem unmöglichen Zielpunkt. Gibt es ein Intervall (wobei es sich um eine Spannung im Hinblick auf eine Vollendung hin handelte), so entfaltet sich in diesem Geschichte in allen ihren Möglichkeiten. Was aber geschieht, wenn einbehalten wird, was empfangen wurde, um weitergegeben zu werden?

Wenn der Konsument ein König ist (›Der Kunde ist König!‹), so lehrt der Mythos, dass dieser König – eine paradoxe Figur, da er zugleich Sohn (des Königs) und ohne Vater ist, weil er erst nach dem Tod seines Vaters zum Herrscher wird – versucht sein könnte, das von seinem Vorgänger (seinem Vater) Erhaltene für sich zu behalten. Sofort fällt einem das Beispiel Kronos ein, der die eigenen Kinder vertilgte, um sie daran zu hindern, den eigenen Platz einzunehmen. Andere Mythen erlauben es, das Bild zu vervollständigen. Ich stelle einige Mythen vor, die aus dem indoeuropäischen Gebiet stammen. Sie zeigen, was der König für sich einbehalten wollen kann (vgl. G. Dumézil, Entre les dieux et les hommes: un roi, in: Mythe et épopée II, Paris 1986, 4ème éd., pp. 258-265).

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Zunächst ist es das Leben. Dumézil berichtet von der Geschichte des Königs Ani von Upsal Aun, der seinen erstgeborenen Sohn Odin opferte, um dafür weitere sechzig Jahre des Lebens (und der Herrschaft) zu erhalten, und nach dieser Frist alle zehn Jahre einen weiteren Sohn – bis keiner mehr da ist – zur Erneuerung der Frist. Ganz genauso kann der König, der bei Antritt seiner Regentschaft der Welt die Jugend (das Versprechen der Zukunft) bringt, die Jugend an sich reißen. König Yayati schlägt im ersten Buch des Mahabharata jedem seiner fünf Söhne vor, ihm ihre Jugend zu überlassen. Nach 1000 Jahren werde sie ihnen zurückgegeben. Vier der Söhne lehnen ab und bezeugen einer nach dem anderen, in Wendungen, die unsere ultra-modernen baby-boomer nicht schlecht finden würden, ihren Schrecken vor dem Alter. Wenn, wie Dumézil sagt, »der Tausch für den jungen Spender nicht den Tod, aber doch einen Verlust bedeutet« (p. 265), so resultiert aus ihm nicht weniger, als dass der Ursprung, also der Vater-König, sich erhält oder auf Kosten eines anderen verjüngt. Es ist wichtig zu bemerken, dass dieses Hamstern nicht auf Kosten von Fremden geschieht, sondern auf Kosten jener Alterität, die vom König selbst, auf die Zukunft gerichtet, herrührt: auf Kosten der Nachkommen. Die hier beschriebene Versuchung besteht exakt darin, sich nicht auslöschen zu wollen, auch auf die Gefahr hin, für sich das zurückzubehalten, was in erster Linie eine Gabe für den anderen ist, d.h. für die Nachkommenschaft. Der Ursprung bewältigt das, was er für einen Seinsverlust hält, durch eine Anhäufung, von der der Mythos sagt, dass sie unmöglich sei. Zugleich spiegelt, wie unschwer aus der Geschichte des Königs Yayati zu entnehmen, die Angst vor dem Verfall, die die Söhne zeigen, letztlich die Angst des Königs selbst wider.

In beiden Fällen bereichert der König sein Leben – quantitativ durch den Zugewinn an Lebensjahren oder qualitativ durch den Rückgewinn der Jugend – auf Kosten der Nachkommen, wobei Konsum aber metaphorisch zu verstehen ist. China bietet indessen Beispiele, in denen der gegenseitige Tausch (Sohn-Vater) sich auf einer ganz konkreten Ebene des Konsums abspielt. Aufgenommen wird das Fleisch des Sohnes.

Das erste der beiden Beispiele, die ich auswählen möchte, ist zugleich das älteste und betrifft den berühmten König Wen, einen der großen Ahnen der Zhou-Dynastie, deren Taten durch einen seiner Söhne, den König Wu, bis zur Einnahme der Shang reichen sollten. Huang Fumi erzählt im Diwang Shiji (édition des Sibu Congshu, vol. 54, n. 23, 35 a-b), dass der König der Shang, Zhouxin, um die Weisheit von Wen zu prüfen, einen seiner Söhne, Boyi Kao, gekocht und dem Vater zur Speise vorgesetzt habe, der ihn daraufhin aß. Er ist dann von Zhouxin befreit worden, während König Shang nun von dem Verlust der Kraft von Wen überzeugt war. Das zweite Beispiel ist die Geschichte eines Generals, der eine Stadt belagerte. Der König dieser Stadt kochte den Sohn des Generals, der sich als Gefangener in den Mauern seiner Stadt befand. Das Gericht wurde dem General vorgesetzt, und er aß und besiegte die Stadt (vgl. das Buch von Hanfeizi, einem Rechtsgelehrten des 3. Jahrhunderts v. Chr., Kap. shuolinshang). Man kann sagen, dass der General die Stadt auf Kosten seines Sohnes erobert hat. All das erinnert an einige Berichte der Bibel (besonders 1 Kön. 16, 34 und 2 Kön. 3, 26-27), in denen Städte wie die des Königs Moab oder wie Jericho durch das Opfer des Königssohns geschützt bzw. wiederaufgebaut worden sind. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Berichten und dem des Hafeizi besteht darin, dass in der Bibel die Zukunft der Stadt durch die unmittelbare Zerstörung der Zukunft des Königs gesichert ist. Man kann das als den Versuch interpretieren, sich selbst durch die gemeinsame Sache zu erhalten, wenn man hinzufügt, dass diese Sache (die Stadt) nur insofern eine gemeinsame ist, indem sie die Stadt des Königs ist.

Im Mythos oder/und in der antiken Geschichte sind Fälle dieser Art zahlreich und zeigen immer dasselbe: das Opfer oder die Vertilgung des Erben (der Zukunft) zugunsten dessen, der zum Erblass verpflichtet ist. Sollte darin mehr zu sehen sein als eine bloße Metapher für etwas, das einem zugleich fortgesetzten und plötzlichen Konsum der Ressourcen entspricht, einem Konsum, der keine Rücksicht auf ein Nachher, das für Vergreisung und Tod steht, kennt?

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Die Entwicklung der sogenannten Stammzellenforschung legt es nahe, die Frage neu zu formulieren. Diese totipotenten Zellen können auf dreierlei Weise gewonnen werden: 1) aus dem Fettgewebe des erwachsenen Menschen; 2) aus der Nabelschnur; 3) aus dem Fötus, der bei der Entnahme zerstört wird. Die Stammzellen werden als der Schlüssel zur Erneuerung des Gewebes oder doch als eine mögliche Spenderquelle für Organe betrachtet, sofern es gelingt, ihre Entwicklung zu steuern. Die Tatsache, dass diese Zellen noch nicht auf bestimmte Funktionen spezifiziert sind, macht sie mehr als andere Gewebe (bspw. eines bereits ausgebildeten Individuums) dazu tauglich, vom Organismus des Empfängers angenommen zu werden und gleichsam die individuellen und spezifizierenden Merkmale dieses Empfängers, der sie selbst nicht mehr entwickeln kann, zu erhalten. Die totipotenten Zellen können als reine Potentialitäten, die der Individuation harren, aufgefasst werden.

Die beiden ersten Quellen der Stammzellen stellen kaum ethische Probleme, es handelt sich um Gewebe, die nicht direkt an einen Organismus gebunden sind oder jedenfalls nicht von essentieller Bedeutung für das Überleben des Organismus sind. Die ›Gabe‹ von Stammzellen, die auf eine dieser beiden Weisen gewonnen werden, können mit dem Spenden von Blut verglichen werden.

Dagegen setzt die dritte Quelle voraus, dass ein Prozess in Gang gesetzt wird, dessen natürlicher Abschluss das ausgebildete und existenzfähige Individuum ist, existenzfähig aus und für sich selbst; genau dieser Prozess wird aber brutal unterbrochen, wenn man die Potentialitäten der Stammzellen zugunsten eines bereits fertigen Individuums nutzen will. Letztlich handelt es sich durchaus um die Vernichtung des noch nicht geborenen Lebens durch ein anderes Leben, d.h. um die gewaltsame Verletzung einer zukunftsorientierten Potentialität durch eine Gegenwart, die sich als beständig und unabänderlich dieselbe begreift. In diesem Transfer, heißt das, findet man sowohl die Idee einer Vertilgung – einer durch die Technik ermöglichten Vertilgung – des Jungen durch den Älteren, als auch die Idee der Verletzung einer (jungen) Kraft zugunsten einer nachlassenden Kraft.

Die mythischen Geschichten inszenieren diese Vertilgung und diese Verletzung als beständige Versuchung des Menschen. Sie erzählen von der Verweigerung der Zeit und interpretieren diese ausschließlich als ein Verderben des Seins. In düsterster Weise stellen sie die Generationenfolge als einen Krieg dar, der buchstäblich zum Tod führt, in dem der Vorgänger in niemandem weiterlebt, außer in sich selbst. Der alte König von Upsal Aun gelangt ans Ziel und konsumiert buchstäblich seine Söhne bis ihr Leben ausgeschöpft ist, aber sein Überleben – durchaus endlich – ist auf Kosten der Zukunft erkauft.

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Der mythische Konsument findet kein anderes Ende als in sich selbst, erschöpft aber die materiellen Ressourcen, die in ein Sein-für-die-Zerstörung verwandelt sind, und riskiert dabei zugleich, dasselbe im Hinblick auf seine eigene Zukunft zu tun, seine Nachkommenschaft auf unmittelbarste Weise zu kennen, indem er nämlich sein eigenes Fleisch isst. Es befremdet, dass die Technik dem Menschen eine reale Möglichkeit zu geben scheint, das zu tun, wovon die Mythen sprechen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir unserem gegenwärtigen und erstarrten Sein alle Ressourcen einer erst noch bevorstehenden Zukunft opfern wollen. Nach dem Tod seines letzten Sohnes stirbt auch der alte König von Upsal Aun. Die Vertilgung seiner eigenen Zukunft – einer Zukunft für seine Nachkommen – hat ihn nicht gerettet. Auch die alternde westliche Welt wird sich nicht retten können, indem sie die eigenen Kinder – qua mythischer Konsument und anderweitig – vernichtet.

Aus dem Französischen übertragen von Reinhard Düßel und Frank Higasi