Ronald Perlwitz
Tristan bis Tristesse:
Transgression von Liebesnormen
im Spiegel der Tristan-Thematik

Man mag vor und zu dem Tristan-Stoff stehen, wie man will. Eines lässt sich nicht ableugnen: universeller ist eine Normüberschreitung kaum je gefasst worden. So fällt das Wort ›Stoff‹ bereits aus dem Rahmen. Nicht vom Stoff, sondern vom Tristan-Mythos gilt es fortan zu sprechen, vom Universalmythos des aus Liebe – und die Betonung sollte auf dieses Wort gelegt werden – begangenen Ehebruchs, vom Mythos der fatalen Dreiecks-Konstellation, die sich sehr schnell – und hier wären wir bereits bei der Norm und ihrer »hervorbringenden Funktion« – als Geschichte zweier Menschen und der zwischen ihnen sich aufrichtenden Hindernisse herausstellt. Dass bei der Liebe von Tristan und Isolde etwas Grundsätzliches am Werke ist, wird bereits bei den ältesten schriftlichen Zeugnissen deutlich. Denis de Rougemont will in diesen auf das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts zurückgehenden Texten, »die Etymologie unserer Leidenschaften« erkennen und sogar Dieter Kühn, dessen Tristan-Unternehmen nach eigener Aussage eher dem Interesse für »das Andere, das Fremde« geschuldet ist, kommt nicht umhin, die »Berührungspunkte« zwischen mittelalterlichem Text und zeitgenössischem Erhfahrungshaushalt festzustellen, Punkte, »in denen die historische Distanz aufgehoben scheint« (Dieter Kühn, Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg). In der Tat beginnt die Tradition des Tristan-Motivs bereits im Mythischen: als könne, als dürfe es keine präzise Quelle geben, keinen Autor, der den zentralen abendländischen Liebesmythos für sich in Anspruch nehmen könnte. Auf eine gewisse Estoire soll alles zurückgehen, von der man lediglich weiß, dass sie in Versen verfasst wurde. Auch wird vermutet, dass sie am Hofe Heinrichs II. Plantagenet und seiner Frau Eleonore von Aquitanien um das Jahr 1158 in französischer Sprache geschrieben worden ist. Auf diese Urversion sollen die ersten überlieferten Tristan-Texte, genauer gesagt die beiden französischen von Thomas (1170-1173) und Béroult (um 1180), sowie die erste mittelhochdeutsche Fassung Eilhart von Obergs zurückgegriffen haben. Wie ein roter Faden zieht sich daraufhin die latente Unbestimmtheit, die romantisch anmutende Verwurzelung der Geschichte in einer ungewissen Vergangenheit durch die Tristan-Tradition. Ob gewollt oder ungewollt, hat auch Gottfried von Straßburg, der Autor des wohl berühmtesten und wichtigsten Tristan-Romans des Mittelalters, an dieser Aura des Offen-Mythischen mitgewirkt, indem er sein Werk als Fragment zurückließ. Zwar haben Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg im 13. Jahrhundert versucht, meister Gottfrieds Werk ein Ende hinzuzufügen, den Reiz, die offene Geschichte weiterzuführen oder umzugestalten, konnten sie jedoch nicht mildern und so steigt bis zum 15. Jahrhundert die Zahl der Adaptionen von Gottfrieds Roman auf stolze 27. Dabei wirkt nicht die Moralität des Tristan-Mythos anziehend, sondern gerade seine latente Amoralität. Die von Nietzsche provokant formulierte Frage: »Glaubt ihr denn, Tristan und Isolde gäben dadurch eine Lehre gegen den Ehebruch, dass sie beide an ihm zugrunde gehen?« (Friedrich Nietzsche, Morgenröte) erklärt ziemlich genau den offensichtlichsten Grund für die Anziehungskraft des Mythos.

Und es vermag dann auch nicht zu verwundern, dass gerade das nach neuen Mythen heischende 19. Jahrhundert die mittelalterliche Todespassion wieder entdeckt und dessen Neuerfindung in Angriff nimmt. So plant August Wilhelm Schlegel schon 1799 eine Neufassung des Tristanromans (wie aus seinem Brief an Goethe vom 7. Januar 1800 hervorgeht), nachdem Gottfrieds Roman 1784 durch den Bodmer-Schüler Christoph Heinrich Myller aus der Versenkung geholt worden war. Doch die endgültige Festschreibung der Geschichte von Tristan und Isolde als Mythos der Normzerstörung im Namen eines absolut gesetzten Liebesverlangens und – gleichermassen als Steigerungsform – als Mythos der triebgelenkten Todessehnsucht liefert dann mit Richard Wagner der deutsche Mythenerneuerer par excellence. »Wagner ist im Tristan nicht weniger Mythopoet als im Ring: auch in dem Liebesdrama handelt es sich um einen Weltenstehungsmythus« schreibt Thomas Mann im April 1933 in seinem folgenschweren Essay Leiden und Grösse Richard Wagners. Von der »Kosmogonie des Tristan« ist hier die Rede und es bedarf nicht einmal eines Umwegs über Schopenhauer und über die Einfügung des Wagnerschen Liebesverlangens in die Willensphilosophie um mit Mann darin übereinzustimmen, dass Tristans Tod, genauso wie derjenige Siegfrieds die Entstehung einer neuen namenlosen Welt begründet, die – jenseits aller Festschreibungen und Individuationen – das erklärte Ziel verfolgt, den Menschen zu sich selbst, zu seiner ureigensten Essenz zurückzuführen. Damit wächst die Tristansche Normüberschreitung aus zur Weltumwandlung, ja zur Neuschöpfung der Welt. Zugegeben, das Projekt ist romantisch tingiert, doch das Mythische an Tristans Untreue und Isoldes Ehebruch lässt die kosmogonische Dimension eindeutig zu. »Selbst dann / bin ich die Welt: / wonnehehrstes Weben, / liebeheiligstes Leben, / Nie-wieder-Erwachens / wahnlos / holdbewusster Wunsch« singen die beiden Liebenden auf dem Höhepunkt ihres zweistimmigen Weltverachtungsmonologs im zweiten Akt. Im Hintergrund beschwört Wagner den Geist des Frühromantikers Novalis herauf: nicht nur als Zeugen der Nacht- und Todessehnsucht, sondern hier auch als Gewährsmann dafür, dass die Liebe durchaus in der Lage ist, eine eigene, innere Welt zu generieren, die der faktischen entgegenzustellen wäre (heißt es doch im zweiten Teil der ersten Hymne an die Nacht »Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle.«). Was mit Gottfrieds Utopie der Liebeshöhle begonnen hatte, findet also in Wagners ›Sehnsuchtsmotiv‹ (gis-a-ais-h), mit dem das Musikdrama anhebt und auch beruhigt nach Isoldes Liebestod schließt, eine deutliche Bestätigung. Dem Tristan-Mythos eignet ein weltschöpferischer Zug, der seinem universell-mythischen Charakter nicht nur entspricht, sondern diesen auch bestätigt. So verbirgt sich hinter jeder Auseinandersetzung mit dem Tristan-Mythos eine ins Metaphysische hineinreichende Problematik, das Moralische wird ins Existentielle hinaufgesteigert und hinterfragt so die Möglichkeit einer liebenden Weltabkehr und Erneuerung. Wodurch auch die Modernität, die sich nie entziehende Aktualität des mythischen Ehebruchs, begründet wäre. Tristan muss nicht nur als Liebesmythos, sondern als ambivalenter Rückzugsmythos verstanden werden, der nur dann Raum für sich beanspruchen kann, wenn er sich subversiv und idealisierend von den realen Verhältnissen absetzen lässt. Demgemäß ist es nur folgerichtig, wenn Raoul Schrott in seinem vor wenigen Monaten erschienenen Roman Tristan da Cunha den Tristan-Mythos als Insel wieder aufleben lässt. Noch bedeutender ist allerdings, dass er diese Insel nicht irgendwo ansiedelt, sondern am vermeintlichen Rand der Welt, der – alles eine Frage der Perspektive – dann kurzerhand doch zu ihrem Mittelpunkt erklärt wird:

»Mein Vater hatte in seinen wechselnden Büros stets eine Weltkarte hängen, und ich mit meinen zwölf Jahren reichte kaum über den Äquator, auf Augenhöhe lag allein die Insel Tristan da Cunha; vielleicht ist das der Grund. [...] Die unzulänglichste Insel der Welt; jener Ort, der am weitesten von allen anderen bewohnten Orten entfernt ist, weiter abliegend als Pitcairn oder Thule in Grönland. Der eigentliche Pol dieser Erde.«


Gottfried von Straßburg: Tristan und die Rechtfertigung der Liebe

Wenden wir uns zunächst dem vielleicht wichtigsten Gründungstext der Tristan-Legende zu, dem mittelhochdeutschen Versroman, Tristan und Isolde von Gottfried von Straßburg. Wie bereits erwähnt, wurde das Werk im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verfasst, wobei sich Gottfried explizit auf frühere Versionen des Tristan-Stoffs beruft, genauer gesagt auf den nur fragmentarisch erhaltenen Tristan-Roman des Thomas der Britanne. So steht bereits bei Gottfried der Interpretationsgedanke im Mittelpunkt: die allseits bekannte Geschichte soll neu erzählt und ihre eigentliche Bedeutung und Implikationen herausgearbeitet werden: »Ich weiß durchaus, es haben viele / erzählt von Tristan und gelesen, / Doch hat man selten über ihn / erzählt, gelesen, was auch stimmt« (Übersetzung von Dieter Kühn). Das literarische Projekt, gerade weil es ein äußerst kontroverses Sujet behandelt, beginnt mit handfester Polemik. Es geht dem Autor nicht darum, Tristans Schicksal einem nichtsahnenden Publikum mitzuteilen, vielmehr gilt es Überzeugungsarbeit zu leisten. Dass diese die ethische Bewertung der von beiden Liebenden praktizierten Normüberschreitung betrifft, versteht sich fast von selbst. Noch bevor der junge Tristan die literarische Bühne betritt, hat der Autor bereits das Feld seiner tragischen Liebesverstrickung abgesteckt. Er ist der Sohn von Riwalon und Blanchefleur, König Markes Schwester, und damit die Frucht einer Liebe, die an sich gesellschaftlich integrierbar gewesen wäre, sich aber aufgrund ihrer unbedingten Leidenschaftlichkeit ins Abseits begibt (als parmenischer Prinz wäre Riwalon in der Lage gewesen, allen höfischen Regeln entsprechend, um Blanchefleurs Hand anzuhalten, dass es nicht dazu kommt, ist lediglich auf die Leidenschaft beider Liebenden zurückzuführen, die ihre körperliche Vereinigung noch vor der Eheschließung vollziehen). Beide Eltern sterben und vermachen ihrem Sohn als Erbe nicht nur den Anspruch auf sein Königreich in der Bretagne, sondern auch die von Gottfried als schicksalhaft gesetzte Verquickung von Liebe und Leid. Was uns nebenbei auch zu der dieser Untersuchung vorangestellten Erkenntnis zurückführt: »Es steckt tristesse im Namen Tristan«.

Tragik ist also der Schlüsselbegriff mit dem Gottfried die vermeintliche Rehabilitation der Liebenden zu rechtfertigen sucht. Zunächst wird Tristan, der König Markes ganze Zuneigung und Vertrauen genießt, beim Kampf mit dem hünenhaften Anführer der irischen Armee, Morolt, so schwer verletzt, dass es der Hilfe Morolts Schwester, der Königin Isolde, bedarf, um seine Wunde zu heilen. Als verkappter Feind erblickt er erstmals die Tochter der Königin, die den gleichen Namen wie ihre Mutter trägt. Daraufhin werden erneut äußere Kräfte beansprucht, um den geschickten Helden und die junge Königstochter wieder zusammenzuführen. Tristan begeht lediglich den Fehler, in höchsten Tönen von der Schönheit der jungen Irin zu schwärmen, was die perfiden Berater Markes dazu bewegt, sie dem König als Ehefrau und Tristan als Brautwerber vorzuschlagen. Doch damit nicht genug, zum Ausbruch kommt beider Leidenschaft erst durch den Liebestrank, den beide während der Rückfahrt nach Cornwall zufällig zu sich nehmen. An dieser Stelle erreicht dann auch Gottfrieds ambivalenter Umgang mit der Tristanschen Normüberschreitung seinen Höhepunkt. Nicht als Agierende, sondern als Reagierende werden Tristan und Isolde schuldig, verstrickt in eine Situation, in die sie eher ungewollt hineingeraten, als Spielbälle eines sich unausweichlich vollziehenden Schicksals. Dementsprechend beantwortet Gottfried auch die Schuldfrage der beiden Protagonisten in einer den Moralvorstellungen seiner Zeit entgegenlaufenden Manier: verurteilt wird nicht die Triebhaftigkeit und mangelnde Treue der beiden Ehebrecher, sondern die höfische Gesellschaft, deren politisch motivierte Heiratspraktiken und Repressionsmechanismen die tragisch verbundenen Menschen in den gemeinsamen Tod treiben. Dennoch: Gottfrieds Vorgehensweise läuft keineswegs darauf hinaus, Tristan und Isolde lediglich in die Opferrolle zu zwängen. Seine Verurteilung der von der Gesellschaft vertretenen Liebesmoral wird flankiert, mehr noch als bei seinen Vorgängern, vom Bemühen, die Liebe an sich fast durchweg positiv zu besetzen. Zwar ist sie, diese Liebe, eine quälende »Drangsal«, die Tristan und Isolde zunächst die schlimmsten Schmerzen und schließlich dem Tode zuführt, doch auf der anderen Seite, lässt der Autor kaum eine Möglichkeit aus, sie trotz ihrer moralischen Verwerflichkeit zu rechtfertigen. Behält er das zentrale Motiv des Liebestranks als unerlässlichen Auslöser der Leidenschaft bei, unterstreicht er jedoch gleichzeitig die gegenseitige Anziehung, die beide verbindet, noch bevor sie vom magischen Getränk gekostet haben. Gottfried weist eindeutig auf Isoldes »sanfte Weiblichkeit« hin, die die junge Frau daran hindert, Tristan im Bade zu ermorden, und legt Tristan eben jenen Hymnus auf Isoldes Schönheit in den Mund, der Markes Verlangen erweckt, aber auch die geheime Zuneigung des jungen Ritters durchschimmern lässt. In ihrem Kommentar zu Gottfrieds Tristan und Isolde interpretiert Danielle Buschinger den Liebestrank dann auch als »Symbol des Bundes, der sie vereint« und unterstreicht damit, dass auf diese Weise die Bestimmung des Trankes ins Fassadenhafte übergeht. Der Autor mag sich zwar, angesichts der vorherrschenden moralischen Normen, hinter diesem Requisit verstecken, indem er seine Funktion aushöhlt, steigert er aber gleichzeitig die ihm inhärente Bedeutung: aus dem rein dramatischen Artefakt ist das Kainsmal einer Gesellschaft geworden, in der man sich eines solchen Tricks bedienen muss, um wahre, tiefempfundene menschliche Gefühle verantworten zu können.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Gottfried in der Szene des Gottesgerichts Isoldes Betrug rechtfertigt und Gott zu Hilfe der sich in den Augen der Gesellschaft verbrecherisch Liebenden eilen lässt: »Wenn man ihn nur richtig bittet, passt ER sich und schmiegt sich an, so angepasst und derart glatt, wie er das sein soll, laut Gesetz«. Dass sich gerade der Bischof von der Themse für Isoldes Ehre einsetzt, ist ein weiterer Beleg für Gottfrieds Bemühen, Gottes Gesetze kontrastiv den weltlichen gegenüberzustellen. Letztere mögen eine Heirat ohne Liebe gutheißen und einem alternden König eine junge Braut zugestehen, für den Autor jedoch steht es außer Frage, dass sich die Liebe von Tristan und Isolde keinesfalls gegen seine ethischen Werte richtet. Wie gesagt: Gottfrieds Verurteilung zielt eher auf das Motiv der Lüsternheit Markes, der sich erst für Isolde entscheidet, nachdem er von ihrer Schönheit gehört hat. Für das Publikum im 12. und 13. Jahrhundert dürfte die Transgression gesellschaftlicher Normen im Roman auf anderer Ebene stattgefunden haben: mehr noch als mit der mangelnden sexuellen Treue Isoldes, will der Autor seinen Leser damit befremden, dass er ein Beziehungsgeflecht entwirft, in dem quasi das Auseinanderklaffen von Liebe und Sexualität, Ehe und Sexualität zum Prinzip erhoben wird. So ist Isolde in der Lage, mit Marke zu schlafen, nur um ihren Ehebruch zu verheimlichen, während Tristan, die andere Isolde, »die mit den weißen Händen«, heiratet, weil er sich zumindest kurzfristig der Illusion hingibt, mit ihr jene Befriedigung zu finden, die ihm mit der wirklichen Isolde versagt blieb. Doch während für beide der sexuelle Impuls noch dem Liebesimpuls unterworfen ist, wird dieses Verhältnis bei Marke umgekehrt, wodurch er, obwohl moralisch im Recht, in ein durchaus negatives Licht gerückt wird. Marke trifft die Entscheidung, die beiden Liebenden, die er in der Liebeshöhle überrascht, zu begnadigen, eigentlich nicht, weil er der Inszenierung ihrer Keuschheit (Tristan legt ein Schwert zwischen sich und Isolde) Glauben schenkt, sondern weil er dieser Lüge, von Isoldes Schönheit betört, Glauben schenken will: »Er [Marke] verlangte, er begehrte, / sie liebevoll zu küssen. / Liebe legte ihre Fackel an, / Liebe entflammte diesen Mann / mit der Schönheit ihres Körpers. / Die Schönheit dieser Frau / lockte seine Sinne / zu ihrem Leib, um sie zu lieben«. Deutlicher hätte es Gottfried kaum ausdrücken können! Die höfische Institution der politischen Ehe, die auch durch die Religion gerechtfertigt wurde, wird von Marke dazu missbraucht, in erster Linie sexuelle Phantasien auszuleben. In seinem Ehebruchsroman vollbringt Gottfried also, was bei seinen Vorgängern nur unterschwellig vorhanden war: er dreht den Spieß um und verurteilt nicht etwa eine Liebe, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen bewegt, sondern stellt vielmehr jene Konventionen an den Pranger, die zur Marginalisierung einer als authentisch definierten Liebe führen. In dieser Hinsicht ist Gottfrieds Werk offen subversiv und steht für eine reale Umwälzung der geltenden Liebesmoral und Ehepraxis ein.

Doch die Betonung, dies muss abschließend hervorgehoben werden, liegt unmissverständlich auf dem Realen. Gottfried mag den Wert der Liebe so hoch ansetzen, wie er will, seine Geschichte von Tristan und Isolde erhält nur dadurch ihre hohe Stringenz, dass der Absolutheitsanspruch des Gefühls durch einen gesellschaftlichen Grundwert eingeschränkt wird: den der»êre«. Für den mittelalterlichen Menschen ist Leben faktisch nur innerhalb der Gesellschaft vorstellbar – und hier macht auch Gottfried keine Ausnahme, was seine konkrete Forderung nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse belegt. Entscheidend für die Integration in die Gesellschaft ist dabei jene »êre«, die, obwohl nur äußerer Schein, zur Sicherung der sozialen Stellung beiträgt. So wähnen sich die Liebenden in der Minnegrotte zwar im Paradies, können sich aber dennoch nicht von der Vorstellung trennen, als nunmehr gesellschaftlich Geächtete, ihre Stellung, ihren Rang und ihr Ansehen am Hof verloren zu haben: »sine haeten umbe ein bezzer leben / niht eine bône gegeben / wan eine umbe ir êre« (»sie hätten für ein bessres Leben / nicht einen Pfifferling gegeben – / höchstens einen für ihr Ansehn...«). Gottfrieds Minnegrotte mag Utopie sein, eine Insel inmitten der realen Welt, wo der Mythos der ewig erfüllten, über alle Anfeindungen erhabenen Liebe gedeiht, trotzdem kann der Mensch in ihr seinen Ursprung nie ganz verleugnen. Sie liegt – der locus amoenus Tradition gemäß – ausserhalb von Zeit und Raum, an einem märchenhaften Ort zu dem kein wirklicher, sondern wenn überhaupt nur ein innerer Weg führt: »Man hatte diese Höhle schon vor langem, / als noch Heiden in der Gegend lebten / [...] in den schroffen Berg gemeißelt; / hier fanden Riesen eine Zuflucht / [...] Wo immer man solch eine Höhle fand, / sie war mit einer Bronzetür verschlossen / und war der Liebe zugeeignet«. Nur hier, fernab gesellschaftlicher Bestimmung, kann sich die Liebe von Tristan und Isolde entfalten. Und doch gerät die Utopie ins Wanken, dadurch, dass sie sich selbst als Utopie entlarvt und dass sich beide Liebenden dessen bewusst sind. Die Grotte stellt sich schließlich als idealer Rückzugsort heraus, über dessen Umweg die verlorengegangene »êre« wiedererlangt werden soll. Damit bleibt Gottfried von Straßburg den Realverhältnissen seiner Zeit treu: es geht ihm um Umwandlung, nicht um märchenhafte Umformung. Auch die Liebe kann sich für den mittelalterlichen Autor eines gesellschaftlichen, weltlichen Rahmens nicht entledigen; die in ihr enthaltenen Traumwelten und Vereinigungsphantasien (»Die vorher zwei und zwiegeteilt, / sie wurden eins und ungeteilt.«) mögen zwar fortwährend vorhanden sein, lassen sich aber nur kurzfristig in die Wirklichkeit übertragen. Gefordert wird hingegen eine neue, menschlichere, innigere Liebesmoral, wodurch gleichzeitig der gesellschaftsgefährdende, utopische Zug der Liebe eingegrenzt und entkräftet wird. Noch ist das subversive Potential der Liebe nur auf einen sozialen Horizont ausgerichtet.


Richard Wagner: Tristan und die Entgrenzung der Liebe

Die Umwertung des Tristanschen Horizonts, die Entgrenzung des Liebesmythos von der realen Gesellschaft ins Metaphysische ist – ohne jeden Zweifel – als die Leistung des Musikers Richard Wagner anzusehen. Die genauere Analyse von Gottfrieds Roman hat bisher deutlich werden lassen, wie sehr die mittelalterliche Ausgestaltung des Tristan-Mythos noch im Spannungsfeld zwischen ethischen und moralischen Normen angesiedelt und als sozialreformatorisches Projekt zu verstehen ist. Die fatale Verknüpfung von Liebe und Tod bleibt für die Autoren des Mittelalters nur dann vertretbar, wenn sie als Anklage herrschender Normensysteme formuliert werden kann. An dieser Stelle setzt nun der Spätromantiker Richard Wagner an, als er Ende 1854 im Züricher Exil nach einem Mittel sucht, seine passioniert-hoffnungslosen Gefühle für Mathilde Wesendonk, die Frau seines Gönners, künstlerisch zu verarbeiten. Wie es der Komponist in seinem berühmten Brief an Franz Liszt vom 16/12/1854 klar ausdrückt, geht es ihm weniger um Liebesnormen, als um das Aufsuchen dessen, was er selbst als Essenz der Liebe ausgemacht hat:

»Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem vom Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll: ich habe im Kopfe einen Tristan und Isolte entworfen, die einfachste aber vollblutigste musikalische Conception; mit der ›schwarzen Flagge‹, die am Ende weht, will ich mich dann zudecken um – zu sterben –«

Wurde im mittelalterlichen Roman die Liebe von Tristan und Isolde noch ob ihres beispielhaften Charakters gerühmt, war das Projekt noch als Reflexion eines der Liebe unkundigen Autors über die Liebe angelegt, bezieht das künstlerische Denkmal, das Wagner der Liebe zu setzen unternimmt, auch seine eigene Person mit ein. Die Todesverknüpfung muss auch – so zumindest die Briefinszenierung – für ihn gelten: der Mythos soll weniger zur Nachahmung anregen, als bis in seine wahrste Tiefe ausgelotet werden – bis zur liebenden Verneinung der Welt gilt es für den Künstler vorzudringen. Zwei Faktoren wirken hierbei in Wagners Unternehmen mit hinein, wobei der eine – das Musikalische – bereits im oben angeführten Zitat durchscheint und der zweite ebenfalls im Brief an Liszt Erwähnung findet, nämlich die Philosophie Schopenhauers. Tatsächlich ist der Name Schopenhauer, den Wagner hier als »größten Philosophen seit Kant« sieht, mit den sich Mitte der fünfziger Jahre wandelnden musikästhetischen Konzeptionen Richard Wagners auf’s engste verknüpft. Ohne hier auf die verschiedenen Aspekte dieses Wandels näher einzugehen muss jedoch an dieser Stelle vermerkt werden, dass Schopenhauers Philosophie nicht unwesentlich auf die Komposition von Tristan und Isolde eingewirkt und damit auch entscheidend den transzendenten Charakter der Tristan-Musik, die ja Nietzsche bekanntlich als »opus metaphysicum« bezeichnete, mitbestimmt hat. Schopenhauers Lehre von der erlösenden »Verneinung des Willens zum Leben« und vor allem seine in Die Welt als Wille und Vorstellung entwickelte Metaphysik der Musik, derzufolge letztere »das eigentliche und wahre Wesen« der auf der Bühne dargebotenen Handlungen und Empfindungen ausspricht, rezipiert Wagner insofern, als er seine in Oper und Drama 1850/51 entwickelte Musikästhetik ab 1854 noch einmal überdenkt und zu einer stärker romantisierenden, symphonischeren Musikästhetik zurückfindet. Nachdem er in jener Abhandlung noch die textliche oder zumindest szenische Bestimmtheit der Melodie gerechtfertigt und gefordert hatte (um auf dieser Grundlage den komplexen Leitmotivbau des Rings zu errichten), rühmt er nun wieder die bereits von der ersten Romantiker-Generation um Wackenroder, Tieck und Novalis sowie von E.T.A. Hoffmann vertretene Auffassung der Unbestimmtheit aller Instrumentalmusik, die deswegen als »romantischste aller Künste« als einzige in der Lage ist, »das Reich des Unendlichen« (E.T.A. Hoffmann, Beethovens Instrumental-Musik) abzubilden. Taugte die Musik noch Anfang der fünfziger Jahre für Wagner nur zum »Mittel« (Richard Wagner, Oper und Drama) des Dramas, erfährt sie nun aufgrund des Schopenhauerianischen Einflusses jene Rehabilitierung, die ihre Abstraktheit nicht mehr als Mangel, sondern eher als Opportunität versteht, zum innersten unaussprechlichen Wesen der Dinge vorzudringen. So wirkt die Beethoven-Festschrift von 1870, in der die neue wagnersche Musikästhetik wohl ihren vollendetsten Ausdruck gefunden hat, wie eine kunstphilosophische a posteriori Fundierung der 1859 fertiggestellten Tristan-Komposition:

»Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Idee darstellt, dagegen selbst eine, und zwar eine umfassende Idee der Welt ist, schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adöquate Idee der Welt ausdrückt. [...] Wie das Drama die menschlichen Charaktere nicht schildert, sondern diese unmittelbar sich selbst darstellen lässt, so giebt uns eine Musik in ihren Motiven den Charakter aller Erscheinungen der Welt nach ihrem innersten An-sich.«

Von nun an geht es Wagner darum, die empfundene und von Schopenhauer bestätigte metaphysische Würde der Musik zu retten – im Drama, das der Musik als unbestimmte und vorerst unbestimmbare »Offenbarung aus einer anderen Welt« (Richard Wagner, Zukunftsmusik), einen konkreten Ort für ihre Epiphanie bietet. Dabei geht es Wagner unmissverständlich um Progression, wie sie im neuen musikästhetischen Paradigma der »unendlichen Melodie« bereits durchschimmert. Von der Oberfläche des konkreten Dramas sollen der Künstler und seine Rezipienten zum unaussprechlichen inneren Kern der Dinge hingeführt werden: einen »träumerischen Zustand« gelte es beim Zuschauer herbeizuführen, in dem metaphysische Einsicht das üblich rationale Verständnis verdrängen, der Mensch die Einheit seines »inneren Wesens« mit der äußeren Welt begreifen könne:

»die geforderte Wirkung der Schönheit auf das Gemüth [...] übt die Musik sofort bei ihrem ersten Eintritte aus, indem sie den Intellekt sogleich von jedem Erfassen der Relationen der Dinge außer uns abzieht, und als reine, von jeder Gegenständlichkeit befreite Form uns gegen die Außenwelt gleichsam abschließt, dagegen nun uns einzig in unser Inneres, wie in das innere Wesen aller Dinge blicken lässt.«

Dass es bei solch metaphysischer Kunstüberhöhung eines Mythos bedurfte, vermag nicht zu verwundern, und noch weniger, dass Wagner hierfür jenen Mythos wählte in dem ab ovo die Weltabkehr bereits vorhanden war. Denn gerade die Geschichte von Tristan und Isolde bot Wagner nun die Möglichkeit zur musikalischen Tat zu schreiten und in dieser die Lösung der utopisch ambivalenten Liebesbeziehung zu suchen. Die Utopie der Minnegrotte, die Gottfried noch gesellschaftlich einzuschränken und real zu bändigen wusste, wird nun zum Grundprinzip des Tristan-Mythos erhoben. Sie fällt bei Wagner mit dem Tod zusammen, der den Liebenden den Übergang zum Liebesparadies, zur erlösenden Einheit verspricht: »So stürben wir, / um ungetrennt, / ewig einig / ohne End’ / ohn’ Erwachen / ohn’ Erbangen, / namenlos / in Lieb’ umfangen, / ganz uns selbst gegeben, / der Liebe nur zu leben!«. An dieser Stelle befindet sich die eigentliche Innovation, die Wagner der mittelalterlichen Tristan-Tradition hinzufügt: so sehr er sich im groben Handlungsablauf nach Gottfried richtet und dabei im ersten und im dritten Akt auf die komplexe Vorgeschichte der Liebenden eingeht (im dritten Akt sogar auf eine Weise, die dem Zuschauer nicht unbedingt einleuchten muss, da Tristan auf seine Herkunft hinweist: »Aus Vaters Not / und Mutter-Weh, [...] hab’ ich des Trankes / Gifte gefunden«), so sehr ist er aber auch davon überzeugt, mit der Musik, über jenes Mittel zu verfügen, das den Ewigkeitsanspruch der Liebe zu entbergen vermag und perfekt zu ihrer Gestaltung als Weltverneinungsgrund taugt.

Halten wir also fest, die Normüberschreitung, die Wagner mit seinem Musikdrama zelebriert, bewegt sich klar jenseits von Ehebruch und geltender gesellschaftlicher Liebesnorm. Wagners Konflikt stellt nicht wie bei Gottfried zutiefst empfundene Liebe auf der einen und soziale – in diesem Fall höfische – Instrumentalisierung der Liebe auf der anderen gegenüber, sondern verläuft zwischen der Liebe und der Welt, zwischen todsüchtiger Liebe und einer durch den Alltag normierten Verbindung zweier Menschen. Das Musikdrama mag zwar am Anfang der Gottfriedschen Vorgabe folgen und Tristan und Isolde bei der Überfahrt von Irland nach Kornwall zeigen, schnell stellt sich jedoch heraus, dass sich Wagner nicht damit begnügt, die Handlung seiner Vorgabe lediglich dramatisch verkürzt und tragisch intensiviert zu übernehmen. Kein Zweifel besteht beim Zuschauer, dass Tristan und Isolde, noch bevor sie den Liebestrank einnehmen, ineinander verliebt sind. Denn nicht von ungefähr spricht Isolde ihre ganze Verachtung für den »Knecht«-Tristan aus, der nicht den Mut besitzt, seine Zuneigung über die »Ehre« zu stellen, dem König seine Braut zuzuführen. Als »Todgeweihte« bezeichnen sich die Liebenden, und so wird der Minnetrank bei Wagner zum Auslöser, nicht etwa nur der Liebe, sondern der in ihr ruhenden Konsequenz: der Todessehnsucht. Auch der Zufall hat bei ihm keinen Platz mehr, da Brangäne Todes- und Liebestrank nur vorgeblich vertauscht und letzterer umgehend zum nur verzögernden Todestrank mutiert. Im Hinblick auf die mittelalterlichen Tristan-Adaptionen hat die heutige Mediävistik den Liebestrank zum »Bewertungskriterium« erhoben (Danielle Buschinger, Kommentar zu Gottfrieds Tristan und Isolde), anhand dessen sich die Stellung des Autors zur Schuldfrage des Paares und zur Legitimität der gesellschaftlichen Liebesnormen ablesen lasse. Dies gilt zweifelsohne auch für Richard Wagner, bei dem die Bedeutung des Trankes ebenfalls darauf hinausläuft, eine Frontstellung nachzuzeichnen, obwohl diese nicht mehr zwischen ethischen und sozialen Normen, sondern zwischen Tag- und Nachtzugewandtheit, zwischen Gesellschaft und ins Zeitlose gesteigerter Liebeslust verläuft. Nur so kann erklärt werden, dass sich beide Liebenden im ersten Akt bewusst sind, einen Todestrank einzunehmen (»ew’ger Trauer / einzger Trost, / Vergessens güt’ger Trank!« ruft Tristan, bevor er den Becher hebt), und später ihren mit dem Austritt aus der Welt einhergehenden Eintritt in die Domäne der Liebe mit den Worten feiern: »Tristan! Isolde! / Welten-entronnen, / du mir gewonnen!«.

Dem für Tristan nicht nur musikalischen, sondern auch dramatischen Prinzip der Progression entsprechend wird im zweiten Akt die Liebe in die Nachtsphäre verlegt, bevor letztere im dritten Akt durch den abschließenden Tod der beiden Protagonisten noch weiter ins Universelle aufgelöst wird: Tristan erklärt nunmehr die »Weltennacht« zu seiner Heimat und verflucht den Tag, den er nur noch als ein Hindernis zwischen sich und Isolde empfindet. Wie beim Frühromantiker Novalis richtet sich die Sehnsucht des wagnerschen Helden nach der Ruhe des Todes. Tristans qualvoller Gesang wirkt dementsprechend wie die tönende Umsetzung der in der sechsten Hymne an die Nacht, Sehnsucht nach dem Tod formulierten Einsicht: »Was wollen wir auf dieser Welt / Mit unsrer Lieb’ und Treue«. Am Ende des Musikdramas scheint dann auch Wagners ästhetische Vorstellung der »unendlichen Melodie« perfekt aufzugehen: das kosmogonisch verstandene Sehnsuchtsmotiv kommt in den letzten Takten zur Ruhe und beglaubigt damit künstlerisch den Absolutheitsanspruch der Liebe. Das Liebesverlangen als Weltentstehungsprinzip ist zu seinem metaphysischen Ursprung zurückgeführt, die Vereinigung der Liebenden jenseits aller weltlichen Individualität vollzogen worden. Und es ist sicherlich eines von Wagners größten Verdiensten, diese Transformation und Steigerung des Tristan-Mythos trotz oder gerade wegen ihres utopischen Charakters durch die Musik glaubhaft gemacht zu haben. Auf diese Weise erscheint auch Wagners liebesgesteuerte Normüberschreitung als absolut: die in der Musik bis zu ihrem Ursprung zurückgeführte Liebe richtet sich nicht nur gegen jedwedes gesellschaftliche Verfahren, sie sozial zu vereinnahmen und zu bändigen, sondern erhebt sich gegen die Welt an sich. Damit zielt die Wagnersche Revolution auf eine geistige Umwälzung jenseits der Dinge:

»Wie unter der römischen Universal-Civilisation das Christentum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Civilisation die Musik hervor. Beide sagen aus: ›unser Reich ist nicht von dieser Welt‹. Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge.« (Richard Wagner, Beethoven)


Tristan heute: Der fehlende Liebestrank

Tristan bis Tristesse lautet unser Titel, und doch haben wir feststellen müssen, dass beides irgendwie zusammengehört. Es gilt nun die Frage nach der Aktualität des Tristan-Mythos zu stellen, nach seiner Funktion in einer Zeit für die weniger Tristan als Tristesse das Leitwort erotischer Verhältnisse geworden ist. Natürlich ist die Frage polemisch, bildet aber dennoch das Dilemma einer Zeit ab, die einfach mit der dem Tristan-Mythos inhärenten Spannung zwischen tief empfundener Liebe und gesellschaftlich normierter Liebe kaum noch etwas anzufangen weiß. Hätte Wagner mit seiner Vertiefung der Frontstellung ins Existentielle den Mythos ein für alle Mal erschöpft? Oder ist eine Gesellschaft zur Verantwortung zu ziehen, die die sozialen Liebesnormen soweit aufgeweicht hat, dass sie gerade noch als leere Hülsen fortbestehen, die zum Spiel, zur Reizverstärkung taugen, aber keinesfalls virulente Marginalisierungsmechanismen mehr in Gang setzen. Für Botho Strauß jedenfalls scheint das Soziale auf dem Feld der Liebe »seine vorherrschende Rolle eingebüßt« zu haben und – umgekehrt – zum Mittel des erotischen Antriebs verkommen zu sein: »Zu gerne würd’ er mal erfahren, was wohl ein sogenanntes erotisches Abenteuer wirklich war, oder wie eine Leidenschaft sich ausnahm, die erst im Bruch von Regeln, Sitte, Widerständen groß geworden war.« (Botho Strauß: Über Liebe, Geschichten und Bruchstücke)

Einerseits kann man dem Autor hier nur Recht geben und hiermit auch den Tristan-Mythos zumindest als unzeitgemäß erklären. Was sollte auch die Geschichte Tristans und Isoldes in einem Jahrhundert, in dem Isolde längst die Scheidung eingereicht und mit Tristan zusammengezogen wäre? Sicherlich ließen sich neue Hindernisse zwischen den Liebenden aufbauen, doch sowohl der mittelalterlichen als auch der Wagnerschen Version des Mythos eignet doch gerade jene Absolutheit des Liebesverbots, die heute nur noch schwerlich postuliert werden kann. Um so erstaunlicher ist es also, dass der Tristan-Mythos gerade im letzten Herbst eine wahre literarische Hochkonjunktur erlebt hat. In erster Linie sind diesbezüglich der 700-Seiten-Roman Tristan da Cunha des österreichischen Dichters Raoul Schrott zu erwähnen, der vier um das Tristan-Thema kreisende Liebesgeschichten entwirft, sowie Botho Strauß’ letztes Prosastück, Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich, dessen Titel bereits ein tristaneskes Grundschema ankündigt, das dann im Verlauf des Werks wieder aufgegriffen wird, indem die gewöhnliche Liebeserfahrung mit einem traumhaften Liebeserleben konfrontiert wird, dessen »hyperreale Dichte und Prägnanz« dem Menschen eine höhere Form des Vergnügens verspricht.

Dennoch wollen wir uns hier fast ausschließlich Raoul Schrott zuwenden, da gerade bei ihm der Rückgriff auf den Tristan-Mythos explizit thematisiert wird. Wir hatten eingangs bereits die topographische Komponente in Schrotts literarischem Projekt hervorgehoben. Tristan da Cunha ist eine – real existierende – Insel im Atlantischen Ozean zwischen Brasilien, Südafrika und der Antarktis auf der Raoul Schrott vier verschiedene das Tristan-Motiv variierende Liebes-Geschichten ansiedelt, wobei die Insel-Lage der im Mythos zentralen Isolations- und Utopie-Thematik mehr als deutlich Rechnung trägt. So wird die Insel zur Allegorie menschlichen Vollkommenheitsstrebens und damit wiederum zum eigentlichen Zentrum der Welt. Die wilden, abweisenden, nie wirklich kontrollierbaren Naturgewalten, die auf der Insel herrschen, tun ein Übriges, um sie zum Fluchtpunkt menschlicher Wunschvorstellungen zu erheben: »ihnen allen [der Mannschaft] erschien dieses Land schön und groß zu sein, wiewohl es, je näher sie ihm kamen, desto unnahbarer aus dem Meer stieg, eine Insel von vollkommenem Rund, wie sie noch nie einer ansichtig geworden waren, eine Mitte der Erde zwischen zwei Äquatoren«. Doch genau diese Vollkommenheit der Insel ist es, an der die aufgerufenen Liebesgeschichten scheitern: ihre idealen Formen stellen sich schnell als Bedrohung heraus, die jene betrifft, die sich dem hoffnungslosen Wahn ihrer Eroberung hingeben.

Vier Geschichten also, chronologisch voneinander abgehoben, gewissermaßen die vier Himmelsrichtungen des allegorischen Ideal-Raumes ausmessend und damit auch beschränkend. Die erste spielt im Jahr 2003 und führt eine 41-jährige Wissenschaftlerin, Noomi Morholt, die sich auf einer Forschungsstation in der Antarktis aufhält, auf elektronischem Wege mit einem südamerikanischen Autor zusammen, der gerade einen Roman über die Insel schreibt und mit dem sie letztendlich nur eine Liebesnacht verbindet. Die Kluft, die es zwischen beiden zu überwinden gilt, ist räumlich und doch mehr als das, denn die feurigen Liebeserklärungen, die Rui per E-Mail in die Einsamkeit der geschiedenen Frau sendet, brechen ab, als der Schriftsteller eine neue Frau findet. Übrig bleibt erneut die Einsamkeit und die bittere Einsicht, dass Liebesschranken nicht immer zur Verstärkung des Gefühls taugen. Ähnlich verhält es sich auch mit der zweiten Geschichte, der des anglikanischen Priesters Edwin Heron Dodgson, der Ende des 19. Jahrhunderts auf die Insel kommt und mit einer jungen Inselbewohnerin, Marah, eine Affäre beginnt, die von beiden Seiten vor allem auf mangelnde Triebkontrolle zurückzuführen ist. So wird die hübsche Geliebte nach dem Liebesakt für ihren Verehrer immer hässlicher, bis er sie letztendlich verstößt. Dabei liegt die Brisanz weniger in der Verurteilung durch die Einwohner Tristan da Cunhas, als vor allem darin, dass der Priester zugibt – in zutiefst Wagnerscher Manier (man vergesse auch nicht, dass Dogson Marah 1883 berührt, also im Todesjahr Richard Wagners) – Liebe als Religion aufzufassen. In der Hoffnung, diesen Jugendtraum zu finden, habe er sich auf der Insel niedergelassen. So schreibt er in einem seiner Briefe: »Ich antwortete Dir, dass es eine Unzahl von Menschen gebe, die nicht wüssten, was Liebe ist [...] Dass ich die Weihe empfing, entsprang meinerseits wohl nur dem Wunsch, einen Begriff in der Religion dafür zu finden. Denn sie bietet uns Schemen [...] Schemen des Makellosen und Vollkommenen.« Entscheidend wirkt hierbei, dass Dodgson die allegorische Stellung der Insel eingehend erläutert. Genauso wie der Tristan-Mythos zur Entfaltung seiner Liebesintensität repressiver gesellschaftlicher Normen, oder wie bei Wagner einer als schal empfundenen Wirklichkeit bedarf, genauso sieht Dodgson nach seiner desillusionierten Liebe, ein, dass die »Ferne von den Menschen«, die Versuchung der Marginalisierung durch Normdurchbrechung keinesfalls schon »Nähe zu Gott« bedeutet. In gewisser Hinsicht wird hier die Insel-Illusion entlarvt, der Tristan-Mythos auf seine Urspannung, die zwischen Liebe und Gesellschaft entsteht, zurückgenommen. Das Heilige der Tristan-Insel existiert nicht an sich, sondern wird konstituiert durch die Öde der sie umgebenden See. So spiegelt Dodgson über seine eigene Geschichte ironisch diejenige des »dem Liebestod geweihten Paares« Samuel und Elizabeth, das sich, wie in Gottfrieds Tristan, von der Gesellschaft ausgestoßen, in eine Liebeshöhle zurückzieht – bei Schrott handelt es sich um eine ärmliche Hütte auf einem Kartoffelfeld –, dort seine Liebe auslebt, um dann, nachdem das »fleischliche Begehren« erloschen ist, »abgemagert und abgerissen« in die Gesellschaft zurückzukehren. Dort werden dann die früher vereinbarten ehelichen Verbindungen wieder geschlossen. Genau wie bei der Antarktisforscherin reicht also das Reale, die soziale Norm nicht mehr zum Liebestod aus, im Gegenteil, sie lässt diesen ins Leere laufen, oder besser bewirkt dessen symbolische Hypostase als unwirtliche, abweisende Insel:

»Und alles Heilige stets eine Insel: Die ausweglose Weite der See verleiht ihr eine Bedeutung, die über einen kahlen Fels im Meer hinausreicht [...] Das gleißend dunkle Meer macht sie dazu, so unversöhnlich sie von ihm entbrandet wird, so unerbittlich widersetzt sie sich ihm, aus den Wellen aufragend, ein Sinnbild des Uraktes der Schöpfung [...] Sie widersteht ihr [der See] wie das Leben dem Tod und ist zugleich doch umschlossen von ihm [...] ihr Gipfel ein Symbol der Erlösung und zu erlangender Ewigkeit; all das birgt sie in sich wie ein steinerner Schrein.«

Schrotts Versteinerung der Liebeserlösung, ihre Metamorphose in den schroff unwirtlichen Gipfel der Insel entspricht übrigens einem alten romantischen Verfahren. Die kunstgeleitete Ablehnung von Natur und Gesellschaft wird als aporetisch empfunden und mit dem Motiv der Erstarrung versehen. Eines der wohl berühmtesten Beispiele in dieser Hinsicht befindet sich bei E.T.A. Hoffmann in der serapiontischen Erzählung Die Bergwerke zu Falun. Elis Fröboms romantische Suche nach glanzvollen Geheimnissen der Natur in der Tiefe der Bergwerke endet mit der tödlichen Paralyse des Helden, der Jahrzehnte später als mumifizierter »erstarrter Jüngling« in einem Schacht gefunden wird. Auf der gleichsam wie von Novalis inspirierten Suche nach ewiger Wahrheit, auf die Verneinung der praktischen Welt folgt die Erstarrung, als das real existierende Gegenstück zur Aporie. Und genau dies scheint auch für Tristan da Cunha, den symbolischen Ort der menschlichen Insel- und Heilssehnsucht der Fall zu sein, wenn aus dem Meer nur noch der Fels der Desillusion herausragt. Auch eine Insel-Existenz reicht eben nicht aus, um Transzendenz zu sichern. Es droht die Versteinerung der Utopie.

Ähnlich verhält es sich mit den zwei anderen auf Tristan da Cunha angesiedelten Geschichten. In der dritten schreibt ein auf Tristan da Cunha spezialisierter Briefmarkenhändler die Geschichte der Insel und der auf ihr entworfenen sozialen Utopien. Dabei beklagt er das Ende seiner Liebe, seiner Ehe mit einer anderen Marah, die ihn irgendwann ob seiner Faszination für die Tristansche Utopie real mit einem seiner holländischen Konkurrenten betrügt und verlässt. Statt Liebesutopie steht hier diesmal eine soziale Utopie im Vordergrund, nämlich jene der ersten Siedler der Insel, die auf einer mitten im Ozean verlorenen Insel, Anfang des 19. Jahrhunderts, eine Gemeinschaft gründen, welche den Prinzipien »der Gleichheit, der Brüderlichkeit und der Freiheit« strikt zu folgen vorgibt. Auf diese Weise dreht Schrott den Spieß des Tristan-Mythos gewissermaßen um, nicht die gesellschaftliche Realität verhindert die Liebesutopie, sondern die Realität der Liebe hintertreibt gleich doppelt den Plan eines sozialen Paradieses. Einerseits führt der von der Frau begangene Betrug dem Briefmarkenexperten die Nichtigkeit seiner der Insel-Utopie gewidmeten historischen Rekonstruktionsarbeit vor Augen (»Dass selbst wer auf diese Insel gelangt noch nichts erreicht hat. Und das ist auch die Geschichte meiner Bögen.«); andererseits unterstreicht der Chronist der Insel den fatalen Einfluss der Frauen und damit der Liebe auf die zunächst nur aus Männern bestehende Gesellschaftsutopie: »Der alte Tristão da Cunha erwies sich jetzt als wahrer Namenspatron der Insel; die Frauen waren die Spitze eines Keils, der zwischen die Männer getrieben wurde – und dahinter begann die große, weite Welt in unsere Utopie einzudringen.«

Verhältnismäßig leicht fällt dann auch die Einordnung der vierten und eigentlichen Tristan-Geschichte aus: die des Kartographen Christian Reval, dessen Name wie ein entferntes Anagramm von Gottfrieds Helden wirkt. Seine Mitte des 20. Jahrhunderts angesiedelte Biographie weist dann auch eindeutige Parallelen zum mittelalterlichen Roman auf: auf dem Boot, das ihn nach Tristan bringt, verliebt sich Reval in ein junges Mädchen, Marah, das er auf die Insel begleiten soll, wo sie mit seinem dort lebenden Freund, der sinnigerweise Marcus heißt, verheiratet werden soll. Vom alles entscheidenden Blickkontakt vor der Abreise, bis hin zum Namen der Schwester Marahs, Brangain, bemüht Schrott immer wieder Details des Tristan–Mythos. So streut Brangain Sand zwischen die Betten der Liebenden, um eine eventuelle Treulosigkeit der Schwester festzustellen, während Christian seinerseits – genau wie Tristan mit Isolde Weißhand – zwar aus Enttäuschung erneut heiratet, sich aber als unfähig erweist, mit seiner Braut physisch zusammenzukommen. Und auch die gesellschaftliche Liebesnorm taucht wieder mit solcher Gewalt auf, das für die Liebenden – zumindest meistens – nicht an eine Vereinigung zu denken ist: wie im Mittelalter gibt es bei den Inselbewohnern »keine Seitensprünge und keine zerrütteten Ehen«, sondern nur ein durch die Erfordernisse des Lebens und des gemeinschaftlichen Zusammenseins bedingtes Zweckbündnis der Eheleute. Platz für Leidenschaft ist in diesem von Überlebenskampf und Vorurteilen geprägten Rahmen schlicht kein Platz.

Dennoch – auch diese Tristan-Adaption – läuft dem Mythos gewissermaßen entgegen. Da wäre zum einen der Liebestod, der nicht etwa Christian und Marah, sondern Christian und seine zweite Frau betrifft – denn beide kommen auf mysteriöse Weise bei einem Erkundungsgang durch die Insel ums Leben. Dann stört sich der am mittelalterlichen Modell geschulte Leser an der Leidenschaft selbst. Ihr sexueller Charakter ist unverkennbar und wird vom Autor immer wieder hervorgehoben. Die zwischen den Liebenden existierende Barriere verläuft vielmehr innerhalb der Beziehung, dort wo Sexualität anscheinend nicht mehr ausreicht: »Mit Marcus zu leben, darin kann ich alt werden, sagt sie; die Liebe zu ihm ist eine andere, weil ich bei ihm anders bin«. Fern der Insel, in England, hätten Christian und Marah zusammenziehen können – doch sie tun es nicht, wahrscheinlich eingedenk dessen, dass der physischen Leidenschaft enge Grenzen gesetzt sind. Damit scheitert auch diese eigentliche Tristan-Geschichte und verläuft in den trivialen Bahnen des Vergessens und der jeweiligen sozialen Integration. So ist Brangäne nicht mehr die Förderin der Liebe, sondern ihre Verhinderin, als wäre sie sich dessen bewusst, dass der Tristan-Mythos zwangsläufig an sich selber scheitern muss. Wobei wir beim entscheidenden Punkt dieser modernen Tristan-Vision wären. Erinnern wir uns: der Liebestrank wird heute als Bewertungskriterium angesehen, der jedwede Auseinandersetzung mit dem Tristan-Mythos bestimmt. Dabei fällt auf, dass bei Raoul Schrott trotz seiner bemerkenswerten Detailtreue genau dieses Detail fehlt. Der Liebestrank dient dazu, die Überwindung des sozialen Liebesverbots glaubhaft zu machen, und genau darauf glaubt Raoul Schrott nunmehr verzichten zu können: die körperliche Anziehung reicht für den zeitgenössischen Autor aus, um das Tristan-Schema abschließend zu dekonstruieren. Als einfaches Aphrodisiakum braucht er den Liebestrank nicht, und noch weniger braucht er ihn als Symbol für Todesverfallenheit oder gar als Entschuldigung für die Übertretung moralischer Normen. Und genau hier liegt auch das Missverständnis, denn im Laufe der 700 Seiten des Romans variiert Raoul Schrott nicht nur das Tristansche Liebesthema, sondern entwirft an dessen Rand auch ein Bild moderner Liebesnormierung. Eigentlich bedürfte es gerade deswegen eines Liebestranks und es ist ein beredtes Zeichen für sein unpräzises Umgehen mit dem Tristan-Mythos, dass der Autor vermeint, sich eines dessen zentraler Elemente nicht mehr bedienen zu müssen. Doch wie heißt sie nun diese neue Norm? Sie heißt sexuelle Leistung, sie heißt individuelle Selbstverwirklichung der Partner, sie heißt ruhiges Familienglück und erfolgreiche Einsamkeitsbekämpfung.

Unmerklich sind wir also mit Raoul Schrott zur Tristesse-Problematik und zu den von ihr in den Tristan-Mythos hineinreichenden Verbindungslinien gelangt. Der Tristan-Mythos, dies dürfte das Nachzeichnen der Tradition deutlich gemacht haben, bedarf der Normüberschreitung und zieht aus ihr nicht nur seine Dynamik, sondern auch seine eigentliche Rechtfertigung. Die Liebe sucht nach Regeln, die es auszuhebeln gilt; hierin besteht ihre Berufung, wobei das Selbstverständnis sowie die Entschlossenheit, mit denen sie vorgeht, ihrer Intensität als Gradmesser dient. An dieser Stelle beginnt die Universalität des Mythos, der sich jeder Normierung entgegenstellt und dessen transzendente Dignität die Liebe immer wieder vor jedem Versuch schützt, sie mit den Imperativen des Gesellschaftlichen, der Langeweile des Alltags, kurz mit dem Leben auszusöhnen. Dabei ist es bezeichnend, dass gerade diese Kernbrisanz des Mythos heute verkannt wird. Denn Tristan bedeutet nicht Aufruhr der Erotik gegen die Norm, sondern das allgemein Subversive in jeder Liebe. Raoul Schrotts lange, ausgiebige Darstellungen der sexuellen Anziehung, die Marah und Reval kurzfristig vereinigt, vermögen den Leser kaum noch zu beeindrucken. Fast wie ein immerwährendes Raunen wirken die erotischen Passagen, kaum mehr wahrnehmbar in einer Zeit banalisierter Pornographie. Insofern kann man Botho Strauß nur beipflichten, wenn er eine über das übliche physische Maß hinausgehende Liebesbeziehung in die Traumwelt verbannt, auch wenn hierdurch der Anspruch der Liebe, sich der Welt entgegenzustellen, nur noch fiktiv zu fassen ist. Michael Lentz’ exzessives Experiment, in seinem ebenfalls vor kurzem erschienenen Roman Liebeserklärung über Sexualität noch kompromissloser zu schreiben und zu reflektieren, als es bisher schon der Fall war, liefert hier ein weiteres Lehrstück für die zunehmende Trivialität des kruden Liebesdiskurses, für die Normierung eines lediglich um Sex und Begehren kreisenden Liebesverständnisses. Was wie eine mutige, schamlose Beschreibung des vermeintlichen erotischen Fundaments jeder Liebesbeziehung daherkommt, entpuppt sich schnell als Manifest zeitgenössischer Liebesnormen. Liebe beruhe auf enthemmter Sexualität, das wäre bereits das erste Credo, gefolgt von so vielen anderen wie die unüberwindliche Einsamkeit – oder besser Unabhängigkeit – des Menschen in der Liebe und dem hiermit eng verbundenen Prinzip vom vermeintlichen Geschlechterzwist: »Lieber, und wenn ich dich bitte, zu bleiben, würdest du dann bleiben? Würdest du dann wieder kommen? Würdest du’s dir überlegen? Bitte. Deine, die sehr traurig ist. Sehe ich da Fangarme, weibliche Abfangjäger, Luftkrieg, im Kopf, Abwehrjäger, Abfangjäger, ist das leichter geschrieben als gesagt? leichter gesagt als geglaubt?, ist das so?« Ungemein selbstsicher und virulent setzen sich hier ganz leise, wie von selbst, moderne Liebesnormen durch. Sogar der Tristan-Mythos entzieht sich nicht ihrem Einfluss, wenn er auch, ob solcher Vereinnahmung, seine ursprüngliche Brisanz einbüßt und nur noch zur leeren, versteinerten Utopie taugt. Was bleibt, ist die Hoffnung, auf seine Wiederentdeckung in seiner wahren, destruktiven, weltverneinenden Dimension, die Hoffnung, dass der Liebestrank wiedergefunden werden möge.