Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus
Hrsg. von Peter Engelmann
Wien: Passagen Verlag, 2002, 98 S.

Der Soziologe und Medientheoretiker Jean Baudrillard von der Universität Paris-Nanterre hat ein provokatives Buch mit drei Aufsätzen sowie einem mit Peter Engelmann geführten Interview zum Geist des Terrorismus der Attentate des 11. Septembers 2001 vorgelegt. Erstmals veröffentlicht wurden Baudrillards Thesen in Le Monde wenige Monate nach den Anschlägen, am 30. November 2001. Die Reaktionen waren nahezu durchgängig negativ. Schon aufgrund dieser erstaunlich einseitigen Reaktion lohnt sich ein genauer Blick auf seine Analyse.

Baudrillard geht von der Frage aus, warum es uns so schwer fällt, die abscheulichen Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 zu verstehen. Andere Weltereignisse wie der Tod Prinzessin Dianas, Fußballweltmeisterschaften, gewaltsame Ereignisse von Kriegen bis hin zu Völkermorden hatten nicht die gleiche globale Bedeutung. Nach Baudrillard liegt das daran, dass sie keine symbolischen Ereignisse waren. Für die Anschläge auf das World Trade Center gilt dagegen, dass es sich um ein »symbolisches Ereignis von globaler Bedeutung« (11) handelt. Er konstatiert eine »gigantische Abreaktion auf das Ereignis« und eine »Faszination« (12), die in den weltweiten Reaktionen zum Ausdruck kam. Daraus folgert er, dass der Terrorismus unseren (Alb-)Traum in die Tat umgesetzt hat. Und er fragt, ob wir nicht alle schon einmal von der Zerstörung der Macht geträumt hätten? Und ob wir nicht von diesem Geschehen träumten, auch wenn wir es nie bewusst gewollt haben? – Er sieht hierin das Unbewusste der westlichen Zivilisation. Niemand könnte nämlich nicht von der Zerstörung einer »derart hegemonial gewordenen Macht« (12) wie der der Vereinigten Staaten träumen. Auch wenn es niemand ausspricht, dringe dies aus allen Reden hervor, die genau diesen Eindruck vermeiden helfen sollten. Mit ihrem Pathos überdeckten sie, was für das westliche Gewissen unannehmbar und dennoch ein factum brutum sei. Zwar haben die Attentäter vom 11. September es ausgeführt, aber, so Baudrillard, »wir sind es, dies es gewollt haben« (12).

Die moralische Verurteilung des Ereignisses korrespondiert mit der Faszination und Genugtuung, der Zerstörung der Übermacht beizuwohnen, die vor allem zunehmend als Reaktion auf die Anschläge »in vollendeter Form Selbstmord begehen wird« (12). Nicht nur hat die Supermacht durch »ihre unerträgliche Macht all diese Gewalt geschürt«, sondern vor allem ist sie nach Baudrillard – wenn auch unwissentlich – Urheber »jener terroristische[n] Imagination, die in uns allen wohnt« (12). Mit dem World Trade Center hat der Terrorismus das Zentrum der weltweit bestehenden Ordnung zerstört. Dieses weithin sichtbare Symbol verweist auf das Wesen des Terrorismus, da es die gesamte Ordnung repräsentiert hat und sich nun eine unerträgliche Wunde im westlichen System auftut, die wir in keinster Form ertragen können. Sie ist unerträglich, da unser System keine Opfer an einem solchen symbolischen Ort, und vor allem auch den Tod selbst nicht akzeptiert. Im 11. September als symbolischem Ereignis von globaler Bedeutung sieht der Autor somit eine Kampfansage an die von den U.S.A. angeführte Globalisierung mit dem Ziel, das ganze Spiel der Geschichte und der Macht ebenso über den Haufen zu werfen wie die Bedingungen seiner Analyse. Im Widerhall des Ereignisses spiegelt sich für Baudrillard eine uneingestandene, tiefgreifende Komplizenschaft mit den Terroristen, die mit ihrer ›symbolischen Strategie‹ genau darauf haben zählen können. Diese von Baudrillard diagnostizierte Komplizenschaft würde auch weithin den Hass der Enterbten und Ausgebeuteten gegen die Weltmacht übersteigen und gleichfalls in den Herzen derer stecken, die sogar von der durch die Vereinigten Staaten dominierten Weltordnung profitieren würden. Dies sei eine folgerichtige Konsequenz, denn »die stete Machtzunahme einer Macht verstärkt auch den Wunsch, sie zu zerstören« (13).

Unzählige Katastrophenfilme hätten von diesem Phantasma gezeugt, das ganze System sogar durch seine interne Zerbrechlichkeit der Initialhandlung Vorschub geleistet. Das Monopol der Weltmacht hat zudem »sämtliche Funktionen im technokratischen Apparat und im Einheitsdenken konzentriert« und damit erst die »die objektiven Bedingungen für diesen brutalen Gegenstoß geschaffen« (15). Es zwang die Terroristen, die Spielregeln zu ändern, da es alle Mittel sich selbst vorbehalten hatte. Dem Übermaß der amerikanischen Macht konnten die Terroristen nur einen definitiven Akt gegenüberstellen, der selbst nicht mehr Teil des generalisierten Tauschsystems sein konnte. Diese irreduzible Singularität des Ereignisses lag in der Bereitschaft der Terroristen, mit der untauschbaren letzten Waffe, nämlich dem eigenen Tod zu bezahlen. Daher sind »die neuen Regeln so grausam, da der Einsatz der Terroristen grausam ist« (15).

Der Terrorismus ist nach Baudrillard in gewisser Weise überall. Er verbreitet sich wie Viren. Das Böse, so Baudrillard, ist viral geworden. Es verbreitet sich unbemerkt weltweit, ohne dass es eine klare Abtrennung geben kann, die es erlauben würde, es zu identifizieren. Es befindet sich ebenso im Herzen der Macht, die es bekämpft und macht sich die Widersprüche und Brüche des herrschenden Systems zunutze. Laut Baudrillard war das Symptom übrigens die Panik-Epidemie, die durch Anthrax ausgelöst wurde. Denn der Feind ist als eine bakterielle, eine virale Keule noch wesentlich perfekter geschützt, beängstigender und unberechenbarer als die Attentäter des 11. Septembers. Während in Zeiten des Kalten Krieges das System der Abschreckung eine Weltordnung darstellte, gibt es heute keine Ordnung mehr, sondern nur eine Weltunordnung. Das Böse ist also insofern viral geworden, als es sich ab sofort auch im Inneren der Weltmacht befindet, die mehr oder weniger die USA verkörpern. Kurzum: »Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planet ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt« (20).

Die einstige Weltordnung befindet sich daher nun im Konflikt mit antagonistischen Kräften, die jederzeit und ubiquitär das Herz des Globalen treffen können. Die Weltordnung ist virtuell an ihre Grenzen gestoßen und bekämpft jetzt reflexartig jeden sichtbaren Antagonismus. Da das Gegenüber aber viraler Natur ist, kann das System des Globalen nichts Nennenswertes gegen diesen Angriff ausrichten. In einer Art Automatismus greift es zur Selbstverteidigung in Form von Kriegen. Diese Kriege aber bestärken wiederum die Arroganz dieser Macht und isolieren die Opfer weltweit weiter. Sie reproduzieren die Arroganz des Mächtigen und zeigen nur, wie wenig man vom Anderen und der Welt insgesamt verstanden hat. Die Amerikaner verfallen stattdessen in einen manichäischen Fundamentalismus, demgemäss es nur Gott und sie selbst gibt, wobei Gott mit ihnen ist. Das Böse muss sich ganz selbstverständlich gegen sie richten, denn schließlich sind sie ja die Guten. Im Rahmen dieses manichäischen Weltbildes sehen sich die Amerikaner von Gott heimgesucht und in ihrem Glauben herausgefordert. Die Exzesse der Macht, der Technologie, des Komforts sind nach Baudrillard Manifestationen dessen, was die Amerikaner als das Gute begreifen. Dies sei aber, so Baudrillard, insofern naiv, als es annimmt, dass »der Fortschritt des Guten, sein Erstarken in allen Bereichen (Wissenschaft, Technik, Demokratie, Menschenrechte) einer Niederlage des Bösen entspricht« (18). Gut und Böse gehen aber laut Baudrillard immer gleichzeitig einher und erstarken innerhalb ein und derselben Bewegung. Der Siegeszug des einen bedeutet keinesfalls die Elimination des anderen, denn das Gute reduziert das Böse nicht und umgekehrt. Beide sind unentwirrbar miteinander verbunden.

Eine weitere Folge dieses Manichäismus besteht darin, dass die Attentate Amerika nicht für die Welt geöffnet, sondern im Gegenteil zu einem Isolationismus geführt haben. In der Entfremdung gibt es für die Amerikaner keinen Anderen mehr. Sie identifizieren sich nur noch mit sich selbst. Nach Baudrillard entspricht dies ganz der Logik der Globalisierung, die ebenfalls als Ausschließung funktioniert. Sie ist eine globale Struktur, die ihr Epizentrum in Amerika hat, betrifft aber letztlich die ganze Welt. Das Maß ist die technologische Kultur einer Gesellschaft. Diese führt in einer evolutionären Entwicklung zunehmend zu einer anonymen Macht. In gleichem Maße wie Amerika der Fahnenträger dieser Globalisierung ist, ist es auch, so Baudrillards beständig wiederholte Folgerung, dessen Opfer.

Die technologische Kultur führt zu einer Art Abschluss, Eingeschlossenheit, deren Folge eine innere Katastrophe ist, die er als eine implosive Katastrophe bezeichnet. Eine Gruppe von Terroristen kann dieses Potential bewusst herauskristallisieren, um es zu einer Reaktion der Isolierung zu zwingen, aus dem dann ein Ereignis resultiert. Die Potentialität dieses Ereignisses war aber immer schon im System vorgegeben, also in seinem Innern vorhanden. Baudrillard bemüht in diesem Zusammenhang seiner Ausführungen einen Vergleich aus der Physik: Demnach implodiert ein System dann, wenn es saturiert ist und eine genügend große Dichte hat. Auch eine Macht, die eine alleinige Macht ist, erreicht in einem bestimmten Moment den Zustand der Saturiertheit und fällt in sich zusammen. Nur wenn das System sich bescheiden würde, also desaturieren, könnte es diesem Mechanismus entkommen. Aber dazu bedürfte es der Selbstreflexion des Systems, und da dies nicht zu erwarten ist, rast es nach Baudrillard unaufhaltsam auf sein Ende zu. Es ist nämlich von einer unkontrollierbaren Entwicklung, ja von einer Exponentialität beherrscht, die es auch für sich selbst letztlich unkontrollierbar macht.

Die daraus resultierende Logik ist eine von Terror und Gegenterror, die von keiner Ideologie, Religion oder Politik überformt wird: Keine Ideologie, keine Religion wie der Islam kann der »Energie Rechnung tragen, die den Terror nährt« (16). Ziel ist es daher auch nicht, die Welt zu verändern. Die Terroristen setzen ihre Gewalt gegen den Terror des Systems. Mit Hilfe des asymmetrischen Terrors gilt es, das Opfer, das System, zu radikalisieren und zu repressiven Reaktionen herauszufordern, die es dann zum Einsturz bringen. Das System hingegen will die Welt durch Stärke und Gewalt dominieren. Die Asymmetrie der Gewalt macht aber die weltweite Allmacht völlig wehrlos, da sie nur die eigene Logik der Kräftebeziehungen kennt und sich auf das Feld der symbolischen Herausforderung und der Selbstopferung nicht begeben kann. Der Terrorismus ist daher nach Baudrillard auch nicht mehr rational, er folgt nicht mehr einer eigenen historischen Dialektik im Sinne Hegels. Baudrillard hält ihn folglich auch nicht für »real«, sondern nur für »symbolisch«, denn »als nicht wirklich seiend tritt der Terrorismus nicht in den dialektischen Ablauf der Geschichte ein, sondern bleibt ein unreduzierbarer Block, also eine Singularität in diesem Sinne« (16). Durch die Hinnahme des eigenen Todes der Terroristen kann das System keine Antwort auf diese Herausforderung finden.

Dabei haben sich die Terroristen alle Waffen der dominierenden Macht angeeignet. Vom Geld und der Börsenspekulation, über die Informationstechnologien und Luftfahrttechnik bis hin zu den medialen Netzen. Genauer gesagt: »Sie haben sich alle Errungenschaften der Moderne und der globalen Zivilisation zu eigen gemacht, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, das darin besteht, ebendiese zu zerstören« (23). Sicherlich war es eine ihrer Meisterleistungen, sich der Banalität des amerikanischen Alltagslebens ganz anzupassen und in ihm unterzutauchen, bevor sie urplötzlich zu Zeit-Bomben mutierten und ihre anonyme Existenz aufgaben. Dies hat zur Folge, dass jedes x-beliebige Individuum als Terrorist verdächtigt werden kann und verstärkt die gewünschte Wirkung der Verunsicherung in der Bevölkerung. Zudem haben die Anschläge unseren Glauben widerlegt, dass der technische Fortschritt mit einer Übernahme des westlichen Wertsystems einhergeht, also mit der Aufgabe tradierter Wertesysteme und -vorstellungen zugunsten des westlichen Fortschrittsdenkens. Die Terroristen haben sich »alle Techniken der Moderne« angeeignet, »ohne deren Werte zu übernehmen« (62).

Es wäre jedoch zu einfach, anzunehmen, dass der Tod der Terroristen völlig umsonst ist. Die Selbstopferung folgt der strategischen Intuition, dass alle Abschreckungs- und Vernichtungsmittel dagegen nichts auszurichten vermögen. Sie erkennt die immense Fragilität des scheinbar allmächtigen Gegners. Seine angeblich technologische Perfektion führt zu dem Paradox, dass ein allerkleinster Auslöser sein gesamtes System zum Kollabieren bringen kann. Der Opfertod in Echtzeit und bei Live-Übertragung ist ein absolutes und unwiderrufliches Ereignis. Er ist die absolute Waffe gegen ein System, das den Tod verdrängt und dessen Parole ›Null Tote‹ lautet. Die Asymmetrie der Gewalt ist nach Baudrillard daher der eigentliche Geist des Terrorismus. Er attackiert das System nicht in Form von klassischen Kräftebeziehungen, da dies ohnehin aussichtslos wäre. Darin besteht das revolutionäre Imaginäre des Terrorismus des 11. September: Das System wird im Symbolischen angegriffen, obwohl es nur überleben kann, wenn es in der eigenen Sphäre des ›Realen‹ attackiert wird und sich dort mit dem Angreifer schlagen kann. Die Verlegung des Kampfes in die symbolische Sphäre bedeutet nichts anderes, als das System auf einem Feld herauszufordern, auf dem es nicht antworten kann, außer unter Hinnahme des eigenen Todes, der eigenen Zerstörung. Und darauf zielen die Terroristen: Das System soll »in Reaktion auf die vielfältigen Herausforderungen durch Tod und Selbstmord seinerseits Selbstmord begehen« (22). Die gewaltige Sogwirkung des provozierten Realitätsexzesses seitens der Terroristen soll zu einem »Wundstarrkrampf« des Systems führen, der das System des Realen und der Macht verdichten und an seiner eigenen Hypereffizienz zugrunde gehen lassen soll. Dessen Repression soll dabei dieselbe unvorhersehbare Spirale wie der Terrorakt wählen, und niemand soll wissen, welche Konsequenzen sie zeitigt bzw. wo sie halt macht. Diese »unkontrollierbare Entfesselung der Reversibilität« (33) ist der eigentliche Erfolg des Terrorismus. Es ist also nach Baudrillard falsch, von der Nutzlosigkeit oder Absurdität des terroristischen Akts zu sprechen.

Um den »Preis des Selbstmords« wird der Terrorismus transpolitisch und gewinnt »eine Wirkung der Destabilisierung und der Embolie, der selbstzerstörerischen Kettenreaktion des Systems selbst« (61). Würde er versuchen, das System mit seinen eigenen Waffen anzugreifen, wäre er chancenlos. Würde der Terrorismus aber nur den eigenen Tod gegen das System setzen, wäre er ein sinnloses Opfer, das sehr schnell wieder verschwinden würde, wie dies beispielsweise bei palästinensischen Selbstmordattentätern der Fall ist. Auffallend ist aber, dass sich der neue Terrorismus dem typisch westlichen Kalkül verweigert. »Ursache, Beweis, Wahrheit, Belohnung, Zweck und Mittel« (27) sind laut Baudrillard die »Begriffe des Preis-Leistungs-Verhältnisses« (28), mit denen wir den Tod bewerten. Es handelt sich dabei um ein ökonomisches Kalkül, das die Terroristen nicht interessiert haben dürfte, da es auf einem Mangel an Mut beruht, den Preis zu zahlen. Dies ist auch der Grund, warum eine Übermacht gegen eine zahlenmäßig verschwindende Anzahl von Individuen, die den symbolischen Tod wählen, nicht ankommen kann.

Der Terrorismus des 11. September hat dieses ökonomische Paradigma, die Allgegenwart und Universalität des Tauschprinzips, erstmals durchbrochen. Er hat eine Zone geschaffen, in der Tausch unmöglich ist. Der Terrorismus ist der Akt, der inmitten des allgemeinen Tauschsystems wieder eine Singularität in Form des Selbstmordtodes entstehen ließ. Diese singuläre Leere klafft nun auf. Der Ground Zero in New York exemplifiziert sie. Er ist ein leerer und empfindungsloser Ort, an dem für einen Moment die Weltmacht U.S.A. auf den Nullpunkt zurückgeführt wurde. Jeder Versuch, dem Ereignis nachträglich einen Sinn beizumessen, muss scheitern, da es ihn nicht gibt. Der 11. September steht für die »ursprüngliche und irreduzible Gegebenheit die Radikalität und Brutalität des Spektakels« (31). Der Terrorismus ist unmoralisch. Das Axiom der guten Gewalt würde nämlich voraussetzen, dass jedes Blutbad der Terroristen politisch nachvollziehbar sein, einen Sinn haben müsste und als historische Gewalt interpretiert werden könnte. Doch das ist eine Illusion, denn der Faszination der New Yorker Ereignisse kann die politische Ordnung nichts entgegensetzen, denn »[d]as Spektakel des Terrorismus zwingt uns den Terrorismus des Spektakels auf« (31). Auch wenn das World-Trade-Center-Ereignis unmoralisch ist und eine universelle moralische Reaktion ausgelöst hat, ist für Baudrillard die Globalisierung nicht weniger unmoralisch. Deshalb ist heute nur Ereignis, was »im Gegenspiel zur abstrakten Universalität« (55) geschieht. Dazu gehört auch der Islam, da er sich als Alternative zu den westlichen Werten präsentiert. Dies ist auch der Grund, warum er heute gerne als Feind Nummer eins angesehen wird.

Neben dem Terrorismus sieht Baudrillard also auch im Globalen eine Gewalt sowohl gegen das Universelle als auch gegen das Singuläre am Werk, die in höchstem Maße unmoralisch sei. Während die Globalisierung unumkehrbar erscheine, sei das Universelle und Singuläre im Verschwinden begriffen. Universalität käme den Menschenrechten, den Freiheiten, der Kultur, der Demokratie zu, Globalisierung dagegen würde sich auf Technik, Markt, Tourismus, Finanzen, Informationen beziehen. Baudrillards These ist, dass jede Kultur, die sich universalisiert, ihre Singularität verliert und stirbt. Dies wird auch den Kulturen des Westens so ergehen, die für sich einen Universalitätsanspruch erheben. Während zur Zeit der Aufklärung sich die Universalisierung von oben, also nach dem Bild des aufsteigenden Fortschritts vollzogen hat, findet sie heute von unten mittels Neutralisierung, Wucherung und der grenzenlosen Ausdehnung der Werte statt: »Ihre Expansion entspricht ihrer schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie« (51). Das Universelle wird also von der Globalisierung verdrängt. Mit der Realisierung des Universellen in seiner schwächsten Definition im Rahmen der Globalisierung hört das Universelle als Transzendenz und Utopie zu existieren auf. Das Universelle wird globalisiert, wird zu einem weiteren tauschbaren globalen Produkt wie z.B. Kapital oder Öl. Dabei wird das System zugleich in seinen Werten homogenisiert und bis ins Unendliche fragmentiert. Die Fragmentierung kommt durch die wachsende Diskriminierung zustande, die zur Logik der Globalisierung gehört. Die Strukturen der Globalisierung würden im Gegensatz zum Universellen entsolidarisieren, um die globalisierten Werte desto besser integrieren zu können. Die dadurch überall entstehenden unwiederbringlichen Distanzen und Klüfte radikalisieren die Situation in dem Maße, dass die universellen Werte ihre Autorität und Legitimität verlieren. Dadurch lassen sich singuläre Kulturen nicht mehr halten und werden zunehmend im Namen der Globalisierung zugunsten einer allmächtigen globalen Technokultur nivelliert.

Einen Ausweg aus der viralen Gewalt der Globalisierung sieht Baudrillard darin, dass ihr eine radikale Singularität entgegengesetzt wird. Es bleibt allerdings unklar, was man sich darunter genauer vorzustellen hat. Die Globalisierung hätte dann nicht zwangsläufig von vornherein gewonnen. Überall können heterogene, antagonistische und unwiderstehliche Kräfte entstehen, und ein immer heftigerer Widerstand gegen die Globalisierung ist auch als eine Art Revisionismus gegenüber der Moderne und ihren Errungenschaften bereits erkennbar.

Die Attentate des 11. September waren in ihrer Präzision ein Ereignis, das jeden militärischen und technologischen Krieg als sinnlosen Schein-Einsatz gegen das eigentliche Übel offenbart. Krieg wird somit zu einer »Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mit anderen Mitteln« (35), denn er kann keine Lösung für die extreme Situation der symbolischen Gewalt des 11. September-Terrorismus sein. Die Terroristen sind in der Lage, eine subtilere Strategie anzuwenden, die bei der Umwendung und Umkehr der gegnerischen Macht ansetzt. Dem System steht diese Strategie nicht zur Verfügung, da es die Waffe der Terroristen, den Selbstmord, nicht abzulenken oder zurückzuwenden vermag. Nur durch eine Ersatzaktion wie beispielsweise Krieg, kann das System suggerieren, den Terrorismus zu vernichten. Die Terroristen genießen eine absolute Überlegenheit gegenüber der gegnerischen Macht, deren repressive Akte die gleiche unvorhersehbare Spirale durchlaufen wie der terroristische Akt. Niemand weiß, wo die Repression, die polizeiliche Überwachung, die totale Kontrolle bis hin zum Sicherheitsterror des Systems enden wird. Die Idee der Freiheit wird schrittweise aus den Gewohnheiten und dem Bewusstsein der Menschen verschwinden. Die globale Deregulierung wird ein Höchstmaß an Zwängen und Restriktionen zeitigen. Die einst liberale amerikanische Gesellschaft wird sich einer fundamentalistischen Gesellschaft annähern oder ihr gar gleichkommen. Dies ist für Baudrillard der wahre Sieg des Terrorismus, der seine Macht steigert, wann immer sich das System zum eigenen Schutz repressiv ausweitet. Das System entkommt aber nicht seiner eigenen systemimmanenten Fragilität und Rückwendung der Macht gegen sich selbst, die geradezu kontraproduktiv mit jedem scheinbaren Sieg noch zunimmt. Zwei Gegner treten gegeneinander an, bekämpfen sich, ohne sich aber je zu treffen. Wer wird den Sieg davontragen, fragt Baudrillard, und seine Antwort lässt sich erahnen: »Alles, was früher zu Gunsten des Systems auslief, läuft jetzt zu Gunsten des Terrorismus, des Mythos des Terrorismus, hinaus« (63).

Baudrillard versteht es, den Leser in seinen Bann zu ziehen und mit seiner ebenso provokativen wie suggestiven Analyse der Attentate des 11. September zu faszinieren. Es entsteht eine Analyse, die es erlaubt eine Vielzahl von Aspekten des aktuellen Terrorismus mit Hilfe eines einheitlichen Begriffsschemas zu deuten. Doch Zweifel kommen dort auf, wo man sich im Detail das Begründungsmuster Baudrillards nochmals vor Augen führt. Die von Baudrillard unterstellte Souveränität der Terroristen erweist sich als ein spekulatives Konstrukt. Die Annahme, die inhaltlichen Ziele der Terroristen seien eine Form der Bekämpfung der Globalisierung und ihr Rückgriff auf die angeblich ›symbolische‹ statt ›reale‹ Macht sind ebenso unbewiesen wie die Reaktionen der bestehenden Ordnung, also des Systems, die von Baudrillard antizipiert werden, ohne dass sich der vorgezeichnete repressive Automatismus als zwingend beweisen ließe. Vielleicht präsentiert der Terrorismus des 11. September gar keine Prinzipien, und damit auch keine dem System überlegenen. Die Intentionen der Attentäter und ihr Handeln entziehen sich am Ende der Kontrolle des Analysten Baudrillard – und übrigens auch aller anderen Analysten. Baudrillard liefert ein in sich konsistentes Erklärungsmuster. Dies macht das Buch lesenswert. Ob dem aber so ist, bleibt trotz Baudrillards Interpretation weiterhin im Dunstkreis des Spekulativen.

Ulrich Arnswald / Jens Kertscher