Ulrich Arnswald
Die Inszenierung der Politik in einer theatralisierten Gesellschaft

War früher das Theater der privilegierte Ort der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, so hat das Fernsehen als Leitmedium diese Funktion mittlerweile übernommen. Während das Theater als Medium marginalisiert ist, universalisiert sich das Theatrale mehr und mehr. Wir alle spielen – im Sinne des amerikanischen Soziologen Erving Goffman – Theater, und zwar immer exzessiver und immer ubiquitärer. Theatralität und Performativität bezeichnen einen kulturellen Mechanismus, der die gesellschaftlichen Prozesse formiert, ohne imstande zu sein, Sinn zu erschaffen.

Das Fernsehen hat in gewisser Weise das Theater beerbt, und das, obwohl es ursprünglich keineswegs auf die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zielte. Das Theater war immer auch ein Reflexionsraum über die Risiken und Dilemmata der Politik. Hier konnte man anschaulich lernen, was man zu bedenken hatte, wenn man sich auf eine Betätigung in der Politik einließ. Anders als das Theater ist das Medium Fernsehen nicht primär der Erziehung zur Demokratie verpflichtet. Nichtsdestoweniger kann es herangezogen werden, wenn es gilt, gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Allerdings steht es im Gegensatz zu den klassischen Institutionen des Theaters, der Literatur und den Geisteswissenschaften nicht mehr für die ›große Sinnstiftung‹ zur Verfügung. Im Medium Fernsehen ist ›Sinn‹ eine Frage der Inszenierung geworden.

Entgrenzte Theatralität ist ein ubiquitärer, unbegrenzter, unkontrollierbarer und zugleich offener Prozeß auf allen Ebenen der Darstellung sozialen Handelns. Jeder ist zu unterschiedlichen Zeiten Schauspieler, Regisseur, Zuschauer oder Gebührenzahler der jeweiligen, ständig wechselnden ›Rolle‹. Die durch Theatralität bedingte Notwendigkeit ständiger Positions- und Rollenwechseln erzeugt bei den Akteuren erhöhten Reflexionsstress. Mit dem Zwang zur Selbstdarstellung in Form von Veränderung, von gekonntem Einsatz in Stil, Ton und Habitus, der Bewältigung von Brüchen, von Statusveränderungen, von Improvisation und Situationsaufmerksamkeit, wächst die Notwendigkeit ihrer Aufarbeitung, der Reflexion des sich inszenierenden Selbst auf seine Situation. Deren Sinnstifter sind innerhalb von Sondermilieus zumeist provinzielle Figuren, bestenfalls lokale Gurus oder Idole. Moderne Gesellschaften lokalisieren ihre Bindekräfte in solchen Kult-Formen. Leicht lassen sich in ihnen Elemente einer dominanten Theatralisierung erkennen.

Insofern lassen sich die Prozesse der Inszenierung mit dem Ziel der Theatralisierung unserer heutigen Lebenswelt immer auf wirkliche Inszenierungen durch einzelne und gesellschaftliche Gruppen zurückführen. In ihnen bildet sich eine Ereignis- oder Event-Kultur, die das Spektakel sucht und durch eine dauerbeschußähnliche Sequenz sowohl selbst produzierter als auch reproduzierter inszenierter Ereignisse sich ihrer künstlich geschaffenen Wirklichkeit als Darstellung und Inszenierung vergewissert (Erika Fischer-Lichte, Inszenierung und Theatralität, in: Willems / Jurga 1998, 89). Diese Theatralisierung geht mit bewußter Inszenierung einher, denn »als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird – auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen.« (88)

Auch auf der Bühne der ›großen Politik‹ lassen sich diese Phänomene sichten. Politische zeremonielle Inszenierungen für das Fernsehen postulieren oftmals einen ›normativen‹ Anspruch. Dabei kommt dem Begriff der Inszenierung entscheidende Bedeutung zu. Einerseits lässt sich Inszenierung im Politischen immer nur als Schein und Simulation verstehen, andererseits sind in der Politik bloß Schein und Simulation imstande, Sein und Authentizität auszustrahlen. Nur in und mittels der Inszenierung lässt sich im Politischen so etwas wie Wahrheit, Authentizität und Sein verorten. Sein und Schein bilden somit zunächst einmal eine Einheit, die nur durch dauerhaftes Vergleichen von Anspruch und Wirklichkeit in Frage gestellt werden kann. Nur über einen längeren Zeitraum lässt sich feststellen, ob die Inszenierung mit den Handlungen des Politikers dauerhaft konsistent und kohärent ist, ob also der inszenierte Schein des Politikers mit dem öffentlich zum Ausdruck kommenden Sein in Übereinstimmung steht, wie der Fall des Politikers und Talkmasters Michel Friedman, der mittels Haarprobe des regelmäßigen Kokainkonsums überführt wurde, einmal mehr bezeugt. Wer sich jahrelang als nationaler Tugendwächter verstand, für den gelten die selbstgesetzten Spielregeln. Sobald das eigene Verhalten nicht mehr mit dem selbst öffentlich postulierten Anspruch einhergeht, fällt die Maske.

Politische Inszenierungen übersteigen oft den Anspruch, den ein Einzelner erhebt. Der ›Hegemonialanspruch‹, der in ihnen zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf gesamtgesellschaftliche Ereignisse und Ideale. Rituale und Zeremonien wie beispielsweise Nationalfeiertage, die ein wiederkehrendes Bekenntnis zur Gesellschaft und zu ihrem Wertekanon darstellen und auf eine Stärkung der Position der den Staat repräsentierenden Ämter und Personen abzielen, gehören in diese Kategorie. In ähnlicher Weise versucht die Politik, ihren Hegemonialanspruch auf mögliche Träger von Veränderungen im Bereich von Symbolen und Realität auszudehnen. Gelingt die Inszenierung, so kommen die postulierten neuen Werte aufgrund der verwendeten Symbolik dem Publikum bereits vertraut vor oder reaktivieren frühere, bereits als obsolet empfundene Ideale. Politische Inszenierungen dieses Typus’ kündigen durch ihren zeremoniellen Charakter Veränderungen an und sollen ihnen den Boden bereiten helfen.

Meist können solche politisch inszenierten ›Transformationen‹ – paradoxerweise – nur von dem Personenkreis ausgelöst werden, der im großen und ganzen das größte Interesse an einer Fortsetzung des Status quo im Sinne der hierarchischen Ordnung besitzt: der Nomenklatura, also der etablierten Führungsschicht von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Es verwundert daher nicht, dass sich letztere oft ambivalent und zögerlich verhält – insbesondere die vom Wählervotum abhängigen Karrieristen der Politikerkaste. Die Auslösefaktoren von Veränderungen folgen also einem komplizierten Interaktionsmuster dreier Akteure: der Führungsklasse als den Protagonisten der Inszenierung, den Medien sowie dem allgemeinen Publikum. Im folgenden soll den Bedingungen nachgegangen werden, welche gegeben sein müssen, damit durch medial-inszenierte Veränderungsangebote gesellschaftliche Wandlungsprozesse tatsächlich in Gang gebracht werden können.

Es ist kaum zu übersehen, dass die über das Fernsehen verbreiteten politischen Rituale und Zeremonien auf Gemeinschaftsbildung durch ein Medium zielen, das in seiner historischen Entwicklung in starkem Maße der Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft Vorschub geleistet hat. Sicherlich sind im Gesamtkontext der Fernsehinhalte dergleichen Zeremonien eher randgängige Erscheinungen, die sich mitsamt ihrem transformativen gesellschaftspolitischen Anspruch erst einmal erfolgreich von einer erheblichen Zahl von tagtäglichen Tickermeldungen und Nachrichten abheben und abgrenzen müssen.

Ob das gelingt, hängt vom Gegenstand der Handlungen ab, und dieser wiederum bestimmt, ob eine zeremonielle Inszenierung jenseits des rituellen Rahmens in eine historische Realität einmünden kann. Während die meisten Zeremonien auf Routine basieren, also wiederkehrend und vorhersehbar sind, gibt es eine Reihe unerwarteter und einzigartiger Ereignisse, die oft als Vorboten ernster Krisen oder als Signal gesellschaftlicher Transformationsprozesse fungieren. In der Politik werden Kriege, Putsche oder Putschversuche, Naturkatastrophen, Verfassungsverabschiedungen, soziale Errungenschaften, Systemänderungen oder Friedenschlüsse zeremoniell aufgefangen. Sie sollen u.a. den Menschen helfen, die erlittenen oder erwünschten Übergänge aufzuarbeiten. Durchs Fernsehen vermittelte Zeremonien dieses Typus antworten somit auf vergangene Ereignisse, Konflikte und Krisen.

Neben diesen vergangenheitsbezogenen Inszenierungen, die zu einem gewissen Grad immer auch die Gefahr des Geschichtsrevisionismus mit sich führen und so einer Fortschreibung der nationalen Gesamtgeschichtsschreibung im Sinne eines fungierenden Historismus dienen können, stehen die unerwarteten und einzigartigen Ereignisse, denen kein äußerer Anlass zugrunde liegt. Solche innovative oder ›transformative‹ Zeremonien stellen ein Angebot zur Veränderung dar und fordern eine ganze Gesellschaft auf, Antworten auf bestehende Probleme zu finden. Indem das Problem durch sie allmählich Konturen in der öffentlichen Debatte erhält, die Lösungsnotwendigkeit allgemein anerkannt und eingefordert wird und so die angestrebte Lösung Zielsetzungen präzisieren hilft, führen sie letztendlich das langersehnte Handeln der Politik herbei.

Zeremonien dieses Typus bedürfen einer ›erzählerischen Dezision‹ in Bezug auf das gesellschaftspolitische Problem, um Erfolg zu haben und zur Veränderung anzuregen. Gleichwohl werden solche Zeremonien häufig von den vorhandenen Führungsschichten veranstaltet, denn die offiziellen Richtlinien bedürfen von Zeit zu Zeit der Korrektur und Neuausrichtung, und die Nomenklatura hat ein Interesse, sich dieser Aktualisierungen zwecks Machterhalt zu bedienen. Indem sie das Unvermeidliche begrüßt, versichert sie sich des Mittels, die anstehenden Veränderungen ihrem Interesse dienstbar zu machen und – sofern notwendig – zu begrenzen.

In diesem Sinne haben Politiker immer den Aktualisierungswillen des historischen Augenblicks im Visier. Die Geschichte ist immer geladen im Gewitter allen denkbar Möglichen. Die Frage lautet, ob ein transformatives Ereignis ›wirklichkeitsmächtig‹ ist. Nur in diesem Fall stellt es einen Wendepunkt dar und nur dann kann die Proklamation einer neuen Zukunft die zur Zeremonie führende geschichtliche Entwicklung rückwirkend reorganisieren und neu beschreiben. Die neue Sichtweise gibt den Blick auf eine politische Blockade frei; ein lang vertagtes Problem wird durch die zeremonielle Initiative mit Veränderungsanspruch adressiert. Die Öffentlichkeit versteht die Bekanntmachung des transformativen Ereignisses als unmissverständliche Botschaft, dass ein bis dato geltendes Dogma überprüft und hinterfragt werden muss.

Die initiierte Zeremonie soll ein Aufbruchssignal darstellen, den ›Anfangsmoment‹ einer gesellschaftspolitischen Transformation. Sie unterbricht die gesellschaftliche Routine und ersetzt sie durch einen neuen Bezugsrahmen und ein neues Paradigma. Es entstehen neue Deutungsmuster des Vorhergehenden, die die unmittelbare Vergangenheit in den Hintergrund treten lassen. Die neue Ära baut einen neuen Handlungsraum auf, der im Bezug aller Veränderungswilligen oder Modernisierer aufeinander Exklusivität für sich in Anspruch nimmt. Zugleich wird die Gegenwart mittels der inszenierten Zeremonie oder ›erzählerischen Dezision‹ mit einer ferneren Vergangenheit verwoben, die angeblich nur durch eine fehlgeleitete Zwischenzeit unterbrochen war und an deren Tradition wieder angeknüpft wird. Erstrebt wird also eine geschichtliche Glättung, die Kontinuität in der Geschichtsentwicklung zum Ausdruck bringen und die fehlgeleitete Phase der Unterbrechung aufgrund einer falschen gesellschaftlichen Entscheidung still und leise korrigieren und vergessen machen soll. Den Bürgern wird suggeriert, dass die Gesellschaft durch das transformative Ereignis zu ihrer wahren Bestimmung zurückkehrt.

Nichtsdestoweniger finden sich die Mitglieder der Gesellschaft im Zuge des erfolgreichen transformativen Ereignisses in einem neu geordneten Bezugsrahmen vor. Die erfolgten Wandlungsprozesse gehen mit einer neuen gesellschaftlichen Identitätskonstruktion einher. Die Zeremonie hat dieses neue Paradigma symbolisiert und zugleich ein altes Paradigma abgelöst. Der Handlungsraum wurde verändert, ein neues Handlungsvokabular geschaffen, Auffassungen haben sich gewandelt und für sicher und unstrittig erachtete Kategorien sind hinfällig geworden – zumindest werden sie in Frage gestellt und dem Wandel angepasst. Die Erfindung einer ›neuen Ära‹ verschafft dem Streitgegenstand und der Auseinandersetzung um die richtige Lösung gesellschaftliche Akzeptanz und ermöglicht die Neuinterpretation historischer Erfahrungen und gesellschaftspolitisch abgesicherter Gewissheiten. Dabei haben die neu entstandenen Deutungsmuster zunächst einmal antizipatorischen Charakter, denn die gesellschaftspolitische Verarbeitung des transformativen Ereignisses und die Durchführung mit seinen reellen Implikationen muss erst noch stattfinden.

Transformative Ereignisse lassen sich in mehrere Phasen gliedern, die aber nicht zwingend bei jedem transformativen Ereignis anzutreffen sein müssen. In der ersten Phase besteht ein anscheinend unlösbares Problem bereits seit geraumer Zeit, ohne dass dies als Skandal betrachtet wird. Das Krisenbewusstsein hat nachgelassen, obwohl die eigentliche Krise nicht beendet ist. Das Problem wird als unvermeidliche Fatalität hingenommen. Man hat sich mit ihm abgefunden und sieht es als Teil der bestehenden Verhältnisse an. Massenarbeitslosigkeit zum Beispiel ist ein solches Phänomen. Das Problem bzw. die Krise bleibt virulent, tritt aber in den Hintergrund. In dieser Phase wird die Zeremonie geplant und organisiert. – In der zweiten Phase wird das zeremonielle Ereignis bekanntgegeben und präsentiert. Es signalisiert, dass eine Veränderung möglich und wünschenswert ist. Bei der Wahl des richtigen Zeitpunktes und bei der Benutzung der richtigen Symbolik entsteht ein Klima der Erwartung von Veränderungsmöglichkeiten, das die bisherige Resignation ablöst und im Ereignis selbst kulminieren soll. – Die dritte Phase ist das Ereignis selbst. Die Zeremonie hat dabei instrumentalen Charakter. Es handelt sich zwar nur um einen symbolischen Schritt hin zur Lösung des Problems, aber es veranschaulicht den angestrebten gesellschaftlichen Endzustand. Aufgrund seiner dramatischen Mittel kann ein zeremonielles Ereignis hohen Ausdruckswert erlangen und einer Gesellschaft als Metapher, als dessen Abbild en miniature dienen. Vor allem aber hat das zeremonielle Ereignis das Ziel einer gesellschaftlichen Transformation durch einen ›als ob‹-Probelauf, der zeigen soll, wie es wäre, wenn die notwendigen oder gewünschten Veränderungen Wirklichkeit würden. Die vierte Phase umfasst neben der zeremoniellen Vermittlung der Symbolik die diskursiven Elemente des Ereignisses. Die Botschaft des Ereignisses muss durch mediale Multiplikatoren in vielfältiger Form aufgegriffen und vermittelt werden. Die mediale Rezeption hat zugleich eine Lenkungsfunktion bei der Herausbildung von Deutungsmustern zum Ereignis. Wenn die Interpretation günstig von den Medien für das Publikum vorstrukturiert wird, gewinnt das Ereignis an Verständlichkeit und an Dynamik. Die fünfte und letzte Phase ist die Wirkungsgeschichte des Ereignisses. In dieser Phase entscheidet sich, inwieweit die durch das Ereignis eingeforderten Implikationen in der Gesellschaft verarbeitet und durchgeführt werden. Ein transformatives Ereignis entsteht also durch Intention und nicht einfach aus irgendeiner Notsituation heraus, auch wenn denkbar ist, dass solche Ereignisse manchmal ungeplant, ja spontan ihren Anfang nehmen.

Das einsetzende Ereignis veranschaulicht den zu erreichenden Zustand durch zwei Aspekte, die die zeremoniellen Akteure setzen. Erstens, eine Vorführung des neuen Paradigmas durch die Gesten der Protagonisten, also das Vorgeben einer ›als-ob-Politik‹, das suggeriert, dass das Mögliche bereits verwirklicht sei. Und zweitens, das Setzen eines ›Rahmens‹ für die Rezeption des Ereignisses, also für das diskursive Moment. Es ist zwar denkbar, dass Gesten und Worte zur selben Zeit stattfinden, im allgemeinen folgen sie aber aufeinander: Zuerst kommen die Gesten, die dann im Diskurs präzisiert werden. Die Erklärungen der zeremoniellen Akteure sind kurz und formelhaft. Die Situation spricht für sich selbst. Erst später wird das neue Paradigma diskursiv aufbereitet. Die Zeremonie hat emblematischen Charakter. Das ›Tun als ob‹ gewinnt durch die Stellung der zeremoniellen Akteure an Gewicht. Zwar ist dieses ›Tun als ob‹ nur eine Geste, die aber aufgrund des Formats der Akteure an performativer Qualität und Gültigkeit gewinnt und das zeremonielle ›Tun-als-ob‹ in die kollektive Erfahrung des eigentlichen Tun überführt. Durch die Übertragung mittels des Leitmediums Fernsehen wird das ›noch nicht Geschehene‹ als eigentliches Tun kollektiv erfahrbar. Die Medien proliferieren die Interpretationen und runden die thematischen Gesichtspunkte ab. Auch wenn der zukünftige neue Zustand noch Gegenstand von Spekulationen ist, verliert der gegenwärtige Status quo seinen Nimbus als nicht zu hinterfragende Realität und seine Sonderstellung als einzig möglicher Zustand.

Mit dem Ende des Ereignisses treten die Spannungen wieder zutage, die durch die Zeremonie in den Hintergrund gedrängt worden waren. Das Ereignis hinterfragt die bisherige Politik und die inszenierte geschichtliche Anknüpfung enthält somit eine Kritik der bisherigen auf Verhinderung hinauslaufenden Politik. Auch aus diesem Grunde werden, wenn die transformativen Ereignisse nicht als spontaner Ausbruch stattfinden, Ereignisse typischerweise von Politikern ›zugestanden‹. Die ›Vision‹ soll zu einer gesellschaftlichen Neuorientierung führen. Dabei müssen die Modalitäten noch festgelegt werden. Auch muss die Öffentlichkeit ihnen zustimmen und sie mittragen. Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit werden beiseite geschoben und die Vision einer an eine entfernte Vergangenheit anknüpfenden Zukunft wird sichtbar. Die Versicherung, eine neue Ära habe begonnen, soll der angekündigten Zukunft Substanz verleihen. Die Vergangenheit dient dem transformativen Ereignis als Hebel, um auf das Selbstbild der Gesellschaft einzuwirken, an die es sich wendet.

Auf das Ereignis folgt die Phase seiner Wirkungsgeschichte. Erst mit der Zeit zeichnet sich der wirkliche Inhalt des abgeschlossenen Ereignisses ab. Langwierige öffentliche Befragungen und Debatten begleiten die Wirkungsgeschichte. Dies ermöglicht es den Politikern, die Tragweite der vorgesehenen Transformation nachträglich zu beschränken. Sie warten die im öffentlichen Raum durch die Leistung medialer ›Interpreten‹ erschlossene Meinung ab. Aber das Ereignis erfordert es auch, dass sich die Führungspersönlichkeiten aller politischer Lager äußern. Neben die Parteien und Journalisten treten die Umfragen der demoskopischen Institute. Das Ereignis muss im öffentlichen Raum bewertet, in seinen Auswirkungen abgeschätzt, in seiner Bedeutung erschlossen werden. Dies ist – trotz gegensätzlicher Meinungen – ein kollektiver, ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang. Die öffentlichen Kontroversen polarisieren die Debatte, sie vertiefen gewisse Aspekte und blenden andere einfach aus. Auf diese Weise erzeugt die Debatte eine bestimmte Auffassung vom Ereignis und seiner ›tieferen‹ Dimensionen – alles Indizien dafür, dass die durch das Ereignis provisorisch veränderte Öffentlichkeit wieder in gewohnte Bahnen zurückgefunden hat. Nun geht es vor allem um die Erforschung der Meinung der Massen. Eine Rückkehr zum Status quo ante kann ausgeschlossen werden. Der durch das Ereignis erweiterte öffentliche Raum und sein neues Problembewusstsein erlaubt dergleichen nicht. Die Veränderung des öffentlichen Raumes ist irreversibel.

Es gibt bestimmte inszenierte Ereignisse, die die politischen Ereignisse verändern können. Sie greifen auf das Mittel der zeremoniellen Inszenierung zurück und benutzen primär das Fernsehen als Vermittlungsmedium. Die Restrukturierung des kollektiven Gedächtnisses erweist sich als wirksam und damit als ›performativ‹. Zwar wird der Begriff der politischen Inszenierung meistens im negativen Sinne und oftmals stellvertretend für die gesamte Politik verwendet, aber man vergisst dabei, dass der Begriff der Inszenierung von dem einer wie auch immer gearteten ›öffentlichen Sphäre‹ nur schwer zu trennen ist. Politische Inszenierungen sind also nicht mit der Auflösung der Politik gleichzusetzen. Die These, Politiker seien Staatsschauspieler, ist insofern redundant. Zwar ist keine Inszenierung kritiklos zu verteidigen, aber ebenso wenig puristisch als solche abzulehnen. Es hängt davon ab, welche politischen Ziele mit der Inszenierung verbunden und wie authentisch sie sind. Dabei muss immer bedacht werden, dass trotz ihres zeremoniellen Charakters politische Inszenierungen nicht unbedingt der Zementierung des Status quo dienen. Eher zielen sie auf Veränderung bis hin zur gänzlichen Infragestellung der aktuellen Situation ab. Symbolische Handlungen vermögen einen quasi-sakralen Raum demokratischer Besinnung und Orientierung zu erzeugen und emotionale Bindung an die Transformation zu schaffen. Allerdings können Symbole nur dann funktionieren, wenn die Öffentlichkeit hinter ihnen Substanz vermutet. Das Misstrauen ist bekanntermaßen groß. Oft gilt ›symbolische Politik‹ als Synonym für Schaumschlägerei. Dennoch muss davor gewarnt werden, Politik einfach nur als Symboltheater und Inszenierungsphänomen zu betrachten.

Inszenierung heißt letztlich nur, etwas ›in Szene zu setzen‹. Wenn bei den Medienrezipienten der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um Realität, dann ist dies zweifelsohne ein angestrebtes Resultat der Inszenierung. Inszenierung als Teil des Öffentlichen setzt heutzutage selbstverständlich verstärkt auf die audiovisuellen Medien. Die Massenmedien sind ein Element politischer Kommunikation schlechthin, auf die kein Politiker mehr verzichten kann. Man kann daraus zwar den Schluss ziehen, dass der Erfolg politischer Akteure primär von den Kommunikationsleistungen und nicht von der Qualität der Parteiprogramme und politischen Entscheidungen abhängt, aber der Umkehrschluss, die Qualität der Parteiprogamme und der politischen Entscheidungen sei nicht maßgeblich für den Erfolg, ist nicht zulässig (Barbara Pfetsch, Chancen und Risiken der medialen Politikvermittlung: Strategien der Öffentlichkeitsarbeit bei politischen Sachfragen, in: Armingeon / Blum 1995, 66). In den Inszenierungsresultaten einiger prominenter politischer Akteure manifestiert sich diese Fehleinschätzung massiv. Beispielsweise hat der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP), Dr. Guido Westerwelle, sich nicht entblödet, in der Fernsehsendung Berlin Mitte am Donnerstag, den 25. April 2002, im Rahmen einer Podiumsdiskussion wörtlich zu sagen: »Ich sitze nicht in dieser Runde, um einen der Herrschaften hier zu überzeugen, sondern die Zuschauer zu Hause. Auf die kommt es mir an.« Dementsprechend verächtlich kommentierte Michael Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Guido Westerwelle redete und redete, nicht für die Kollegen Mitpolitiker, sondern fürs Publikum, das er demonstrativ bis weit über die Zaunpfahlwinkschmerzgrenze umschmeichelte.« (Guido gegen den Rest der Welt, FAZ v. 27. 4. 2002) Westerwelle versuchte sich beim Zuschauer als ›Macher‹ zu stilisieren, wohl wissend, dass der Prozess der politischen Willensbildung sich nicht in der medialen Öffentlichkeit, sondern in komplizierten Verfahren hinter verschlossenen Türen abspielt. Sein sprichwörtlicher Anfängerfehler lag darin, zu verkennen, dass zwar die Darstellungspolitik sich am Zwang der Publizität orientiert, also den medialen Aufmerksamkeitsregeln einer medialisierten Öffentlichkeit folgt, nicht aber die Entscheidungspolitik. Letztere ist an die institutionellen Strukturen der Demokratie gebunden und nicht an ein Volkstribunal.

Die Missverständnisse gehen aber viel tiefer. Zwar erzeugt die mediale Öffentlichkeit einen immensen Inszenierungsdruck auf die Politik, jedoch nicht zum Preis andauernder Beliebig- und Inhaltslosigkeit. Thomas Meyers Diktum, dass die Medien nur beherrscht, wer sich ihnen unterwirft, ist so falsch wie verheerend. Kein empirischer Befund kann dies mittelfristig bestätigen. Es mag zwar sein, dass Politiker sich den Medien unterwerfen, um den Schlüssel zur Sicherung ihrer primären Lebensressource, der Legitimation von Macht durch Zustimmung zu erlangen (Meyer 2001, 85), nur sichert dies noch lange nicht andauernden medialen Erfolg. An der Inszenierung des medialen Scheins von Politik ist der Schein und nicht die Inszenierung das primäre Problem. Wessen Inszenierung nur Schein ist, der wird zwangsläufig scheitern. Zwar ist die Inszenierung ohne politischen Informations- und Entscheidungsgehalt in den gegenwärtigen Mediensystemen stark verbreitet, der kritische Punkt bleibt aber, ob das politische Thema in ausreichendem Maße als solches überhaupt erkennbar wird. Ist dies nicht der Fall, so löst sich die Inszenierung in Nichts auf. Der Glaube, dass das Massenpublikum medial gekonnte Inszenierungen auch bei Inhaltslosigkeit noch honoriert, entstammt der medialen Verführbarkeit zweitklassiger politischer Akteure ohne hinreichende Substanz. Für Politiker gibt es kein Entfliehen vor ernsten Problemen, politischen Krisen etc. Das liegt in der Natur des Politischen. Ein Politiker, der nicht politisch entscheiden mag, hat das falsche Metier gewählt. Man mag zwar darüber nachdenken, politische Entschlossenheit gegen Widerstände, die Infragestellung von Besitzständen sowie personale und institutionelle Durchsetzungsfähigkeit zu inszenieren, das würde aber bedeuten, dass vor der Inszenierung bereits eine politische Entscheidung und Positionierung stattgefunden hätte. Und dieser Ablauf ist zwingend: Die politische Entscheidung muss vor der Inszenierung stehen, nur dann kann sie gelingen und zu einem transformativen politischen Ereignis aufsteigen.

Thomas Meyer sieht uns besorgt auf dem Weg in die Schaupolitik der Mediengesellschaft, bei der die symbolische Politik nur noch zu einer strategischen Form politischer Kommunikation verkommt. In der symbolischen Politik sieht er die Produktion einer Sinnestäuschung, die zugleich Gefolgschaft produzieren will. Das Symbol würde dabei auf ein Nichtanwesendes verweisen (Meyer 1994, 139). Das ist zweifelsohne insofern richtig, als ein Symbol immer auf etwas Nichtanwesendes verweist. Die Frage lautet, ob deshalb symbolische Politik mit Sinnestäuschung identisch ist. Und kann man mithilfe einer Sinnestäuschung überhaupt dauerhaft Gefolgschaft produzieren? Hier scheint mir Meyer zu kurz zu springen. Jede Darstellung ist immer ein konstitutives Moment von Authentizität. Dies gilt auch für die Politik. Authentizität kommt von ›Authentes‹ , und leitet sich von ›auto – entes‹ , der Selbstvollendende, ab. In der adjektivischen Bedeutung von ›eigenhändig vollführt‹ deutet es primär auf den Selbsthandanlegenden. Somit reicht das Bedeutungsspektrum des Authentischen vom Urheber und Täter bis zum Mörder und schließlich Selbstmörder, der Hand an sich selber legt (Eleonore Kalisch, Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung, in: Fischer-Lichte / Pflug 2000, 32) – im Angesicht der Möllemann-Tragödie eine eher makabre Erkenntnis. Das Authentische kann somit immer als das ›radikal Eigene‹, das ›innere Selbst‹, ja das ›eigene Wesen‹ verstanden werden, wie es sich in Haltungen und Tätigkeiten, also in Äußerungs- und Handlungsformen zeigt. Als Inszenierung zeigt es sich in Form eines ›Sich-Darstellens‹ und / oder als ein ›Etwas-Anderes-Darstellens‹ (Joachim Fiebach / Traute Schölling, Authentizität und / als Inszenierung. Beispiele aus Afrika und dem England des 17. Jahrhunderts, in: Fischer-Lichte / Pflug 2000, 257 ).

Eine »symbolische Placebopolitik« (Meyer) kann nicht dauerhaft ohne Kosten für die Glaubwürdigkeit des Handelnden vonstatten gehen. Die Menschen merken dies – früher oder später. Wenn aber das Anliegen eines Politikers nicht hinreichend authentisch ist, werden die Wähler ihm die Gefolgschaft aufkündigen. Meyer hat an anderer Stelle eingeräumt, dass »(g)erade in Krisenzeiten (...) der Zynismus dieser Politik von den Menschen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr akzeptiert (wird).« (Meyer, Die Theatralität der Politik, in: Siller / Pitz 2000, 121) Der zum Medienkanzler gekürte Gerhard Schröder hat dies als einer der ersten erkannt. Seine Einsicht, dass »der Charakter von Politik (...) sich an der Substanz von Politik (entscheidet)«, bleibt maßgeblich. (Gerhard Schröder zitiert in: Richard Meng 2002, 142) Inhaltslose Selbstinszenierungen können nur kurzfristig Wirkung entfalten und von den politischen Sachfragen ablenken. Langfristig werden sie zum politischen Problem des Inszenierers, dem das Manko mangelnder politischer Glaubwürdigkeit und Authentizität anhaftet, ja der gar zum politischen Clown verkümmert.

Man denke nur an Jürgen W. Möllemann, der politische Kernaussagen mehr und mehr dem Spektakel und der Inszenierung geopfert hat. Rolf Zundel schrieb bereits 1981 über den jungen Abgeordneten Möllemann in der ZEIT: »Das Phänomen ist allemal größer als die Figur und deren Überzeugungen« (zitiert in: Matthias Geis, Eine Überdosis Politik: Der Fall Möllemann, in: Die Zeit v. 12. 6. 2003). Noch deutlicher wurde Matthias Geis in seinem Nachruf: »Jürgen Möllemann hat sich von Beginn an so konsequent inszeniert, dass der Politiker schon bald hinter seiner bunten Werbefläche verschwand. Die systematisch erzeugte Publizität machte ihn bekannt – und zugleich unkenntlich. (...) Doch aus der Fülle und Skurrilität von Möllemanns Aktivitäten ließ sich ein politischer Wille nur schwer herauslesen. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik wohl keinen zweiten Politiker, der sich mit solcher Intensität und solchem Spektakel um seine politische Wirksamkeit gebracht hat« (Geis, ebd.). Der Fall Möllemann macht klar, dass Inszenierungen, die einem oberflächlichen Begriff des Politischen folgen, politisch nicht weiterführen. Mögen die Protagonisten noch so prominent sein, politisches Gewicht bekommen ihre Aussagen und Forderungen nicht. Selbst optimal inszeniertes politisches Theater kann dauerhaft politische Inhalte nicht ersetzen. In den Worten des Politikers Gert Weisskirchen: »Sie verhelfen vielleicht zu kurzfristigen Höhenflügen, aber der ihnen unvermeidlich folgende Absturz ist umso schmerzlicher.« (Gert Weisskirchen, Politische Inszenierung und der Flug des Ikarus, in: Siller / Pitz 2000, 128)

Der Fall Möllemann belegt zudem, dass die These von Thomas Meyer und Rüdiger Ontrup, dass grundsätzlich »eine politische Inszenierung in dem Maße geglückt« sei, in dem die Medien gezwungen seien, »das Ereignis ins Bild zu nehmen«, und der Politiker sich »in der scheinbaren Dignität der Unabhängigkeit vom Medium bewegen« könne, sich nicht halten lässt. (Meyer / Ontrup, Das ›Theater des Politischen‹. Politik und Politikvermittlung im Fernsehzeitalter, in: Willems / Jurga 1998, 532) Möllemann ist genau dies immer wieder gelungen, und doch ist er politisch katastrophal gescheitert. Auch der den Fernsehbildern immer wieder zugesprochene Authentizitätseffekt, der unter Namen wie ›Augenzeugenillusion‹ oder ›essentialistischer Trugschluss‹ immer wieder durch die Literatur geistert, bleibt zweifelhaft. Die Behauptung, es sei leichter, Worten zu widersprechen als Bildern, fußt auf einer von dem gerade genannten Autorenpaar propagierten und weitgehend unreflektiert verbreiteten These. Bei ihnen heißt es: »Das Fernsehen bringt politisches Geschehen auf eine Weise in Augennähe, die Gesehenes wie ein Stück Eigenerfahrung erscheinen lässt und – anders als beim bloß gehörten Sprechakt – gezielten Widerspruch erschwert.« (538) Der derzeitige Kanzler, als der Hauptakteur im politischen Geschäft, sieht dies anders. Dem Magazin Rede & Karriere hat Gerhard Schröder anvertraut: »Man kann vielleicht mit einer rhetorischen Figur noch das unmittelbar zuhörende Publikum täuschen, aber niemals das Fernsehen. Das ist das unbestechlichste Medium, das es gibt. Fernsehen straft jede Lüge.« (Meng, 89) Wer ein wenig nachdenkt, erkennt leicht, dass das Fernsehen immer wieder Aussagen von Politiker über einen Zeitraum von bis zu einigen Jahrzehnten als Konserve hervorzaubert, um den betroffenen Politiker mit früheren Aussagen zu konfrontieren. Auch durch dieses Mittel hilft das Fernsehen dem Publikum, Authentizität und Glaubwürdigkeit von Politikern zu überprüfen. Vielfältige Wiederholungen in den verschiedenen Nachrichtensendungen, Wochenspiegeln, Reportagen etc. erlauben dem Zuschauer sogar, mehrmals zeitnah das gleiche Bildereignis zu rezipieren und sich immer wieder ein neues Bild zu machen. Das Argument der ›Augenzeugenillusion‹ verkennt meines Erachtens, dass es für die Wirkung des politischen Schauspiels nicht nur auf die Leistungen der Akteure auf der Bühne, sondern auch auf die Reaktionen des Publikums ankommt. Sicherlich kann der Wahrheitsanspruch eines Politikers nicht von jedem Zuschauer überprüft werden, nichtsdestoweniger kann dieser die Inszenierung unter dem Gesichtspunkt der Plausibilität und Glaubwürdigkeit der Information betrachten. Dass Herrschaft und Macht immer auch zu einem Teil über Repräsentation funktionieren, ist historisch nicht neu. Aber auch hier gilt, dass die materielle wie ›metaphysische‹ Seite von Herrschaft und Macht auch ›geglaubt‹ werden muss.

Entscheidend für die politischen Akteure ist, ob das Publikum ihnen ›Glauben‹ schenkt oder nicht. Jemand ist nur dann dauerhaft glaubwürdig, wenn es ihm gelingt, in Bezug auf einen erhobenen Geltungsanspruch Ehrlichkeit und Kompetenz zu vermitteln. Das heißt, ein Politiker muss seine Glaubwürdigkeit über Jahre pflegen. Er muss ehrliche Absichten und Fähigkeiten besitzen, und er muss dies mit seinem Handeln zuverlässig bestätigen. Für Politiker stellt sich diese Frage systematisch, unter Umständen auch dramatisch – siehe Barschel, Möllemann oder Friedman. Der Verlust moralischen Kredits geht einher mit dem Verlust von Glaubwürdigkeit und Authentizität, den kostbarsten Ressourcen eines jeden Politikers. Sie sind umso kostbarer, als Politiker mit einem Unglaubwürdigkeitsstigma leben müssen. Da das Publikum relativ desinteressiert ist, steht in der Regel Politikern wenig mediale Zeit zur Verfügung. Wer seine Glaubwürdigkeit verspielt, kann nicht davon ausgehen, den Schaden reparieren zu können. Politiker müssen daher in der Lage sein, die existenten Spielräume für die Inszenierung ihrer Politik zu nutzen, doch dürfen sie sich nie der Logik des Politischen entziehen. Anders gesagt: »Politikvermittlung, politische Kommunikation ist demnach nicht nur Mittel der Politik; sie ist selbst Politik.« (Sarcinelli, 149) Die vielleicht bekannteste These Thomas Meyers, dass die »Politik tendenziell unpolitisch« wird (Meyer, ebd. 264), ist insofern so verbreitet wie absurd. Wäre der Politiker ähnlich dem anonymen Medium Fernsehen der Inszenierung weder mit seiner Person noch mit seinem Namen verhaftet, dann wäre so etwas denkbar. Genau dies findet im Politischen – anders als in den Medien – nicht statt. Der Politiker haftet mit seiner Person, er trägt unmittelbar politische Verantwortung. Während sich ein globales Medienunternehmen wie Yahoo am 2. November 2002 den Fauxpas leisten konnte, unter der Rubrik »Unterhaltung« mit der Meldung »Viel Prominenz bei Trauerfeier für Siegfried Unseld (AP)« aufzuwarten, ist dies für Politiker aus Gründen des guten Geschmacks undenkbar, würde zumindest nicht ohne politische Konsequenzen bleiben. Die Beerdigung Unselds als Unterhaltungsevent zeigt die Verrohung vieler anonymisierter Medien.

Man darf die Politik in diesem Kontext nicht idealisieren. Erfolgreiche Politiker haben es immer verstanden, sich in Szene zu setzen. Nicht von ungefähr heißt es in der Politik: »Klappern gehört zum Handwerk«. Das war grundsätzlich immer so und ist kein neues Phänomen. Selbst die Rhetorik ist immer Element einer Inszenierung und niemand stört sich daran. Immer schon hatte es im politischen Geschäft derjenige leichter, der die Technik der Selbstdarstellung beherrscht. Der so genannte ›Medienkanzler‹ Schröder ist daher keineswegs ein Pionier, sondern nur ein moderner Könner in Sachen Medienumgang. Im übrigen stehen Rhetorik, Ästhetik und Symbolik allen Politikern gleichermaßen zur Verfügung, unabhängig davon, ob sie ›gut‹ oder ›schlecht‹ oder für ›gute‹ oder ›schlechte‹ Zwecke eingesetzt werden. Aber das heutige Ausmaß der Selbstinszenierung von Politikern hat wahrlich eine neue Qualität erreicht. Sie ist nicht länger Begleiterscheinung von Politik, sondern oftmals versuchter Politikersatz. Keiner hat dieses Phänomen besser exemplifiziert als Jürgen W. Möllemann. Nochmals in Matthias Geis’ Worten: »Er wurde zum Inbegriff des ungeniert PR-orientierten Politiker, der unterhaltsam-provokativ und witzig, gelegentlich aber auch nur laut und marktschreierisch daherkam. Das bescherte ihm früh eine paradoxe Erfahrung: Die Prominenz, die im seine rastlose Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache eintrug, gefährdete zugleich sein Ansehen als ernst zu nehmender Politiker.« (11)

Geradezu prototypisch steht dafür das inhaltlose »Projekt 18« der FDP. Diese Art degenerierter Politik ist für das Gemeinwesen verheerend. Die Menschen können von politischen Clowns und egozentrischen Selbstdarstellern à la Möllemann und Westerwelle keine politischen Problemlösungen und kein Verantwortungsbewusstsein für Entscheidungen erwarten. Was als politisches Amüsement begann, wurde zusehends zum politischen Problem. Bald jagte im Polit-Entertainment ein Tabubruch den nächsten: vom Antisemitismus einer einstigen Bürgerrechtspartei hin zu »Guidos« Überlegungen zum Umgang junger Menschen mit der deutschen Vergangenheit. Größtmögliche Erregung zwecks publicity. Tabubrüche zur Dynamisierung der politischen Landschaft. Mit dem Guidomobil über die deutschen Campingplätze zur Volkspartei. Die Sprengung des traditionellen Platzes der FDP in der deutschen Parteienlandschaft, um das große Ziel »18 Prozent« zu erreichen, setzte alle innerparteilichen Regeln außer Kraft. Nach dem Ausbleiben des Wahnsinnserfolgs musste Möllemann als alleiniger Sündenbock herhalten. Guido Westerwelle hat bis heute weder Rechenschaft über die Geschehnisse abgelegt noch die Verantwortung dafür übernommen. Möllemanns Rauswurf sollte signalisieren, dass die Liberalen wieder zu ihrer Tradition zurückgekehrt sind. Das Problem wird Westerwelle aber erhalten bleiben. Wer sich von ernsthafter Politik verabschiedet hat, kann zu ihr nicht mehr glaubwürdig zurückkehren. Dass dem so ist, kann Guido Westerwelle von seinem verstorbenen einstigen Parteifreund Jürgen W. Möllemann lernen. Der Politikselbstdarsteller par excellence hat kurz vor seinem Tod in einer letzten Volte just diesen Typus scharf kritisiert und versichert, dass »(d)iese Sorte Politiker (...) der Ruin des Landes (sei). Sie haben keine politischen Ziele, sondern inszenieren nur sich selbst. Bei ihnen ist der Weg tatsächlich das Ziel.« (Geis, 11) Ob er sich damit selbst gemeint hat, geht aus seinen Worten nicht hervor. Seine Expertise in diesen Fragen war aber nicht unerheblich.

Nichtsdestoweniger ist bei der Auswahl politischen Personals eine mediengerechte Oberfläche von großer Bedeutung. Die Theatralisierung der Politik, wie sie bei Fernsehtalks und Parteitagen bis hin zur Terminierung von Entscheidungen gemäß den Sendezeiten der großen Fernsehsender praktiziert wird, ist zweifelsohne Realität und wird sich nicht mehr umkehren lassen. Die insgesamt stärkere individuelle Selbstinszenierung der Politikerkaste ist eine politische Realität unserer Gesellschaft. Zudem versuchen viele Politiker sich durch Selbststilisierung den Milieus anzunähern, die als Trendsetter das Selbstverständnis der Gesellschaft bestimmen. Die Verwendung gesellschaftlicher Codes - Design, Form und Stil – soll seitens der Politiker Nähe zu den maßgeblichen Trends signalisieren. Diese Instrumentalisierung der Milieus seitens der Politik kann durchaus mit Anbiederung gleichgesetzt werden, insbesondere wenn inhaltliche Auseinandersetzung nicht stattfindet. Das Guidomobil ist anschaulicher Ausdruck des Scheiterns einer solchen Politik. Nur in begrenztem Maß kann Politik Formen und Stile der verschiedenen Milieus verwenden, auch hier gilt es sowohl die Authentizität des Anliegens als auch die inhaltsorientierte Auseinandersetzung mit diesen Gesellschaftsgruppen im Auge zu behalten. Peter Siller bringt es auf den Punkt: »Politische Zusammenschlüsse sollten auf Grund ihrer spezifischen Aufgabe nicht in dem Partikularismus soziokultureller Milieus aufgehen, gleichzeitig aber zu einer Offenheit und Öffnung in Bezug auf Pluralität der Lebensstile kommen.« (Politik und Ästhetik. Anmerkungen zu einer prekären Allianz, in: Siller / Pitz 2000, 14) Wenn der Politiker aber sich auf ein Milieu bzw. Publikum einlässt und suggeriert, seine Werte zu teilen, ihm zu gefallen versucht, ohne seine Überzeugungen zu teilen, wird die Selbstinszenierung peinlich und zugleich kontraproduktiv.

Viele Politiker versuchen Authentizität zu erreichen, wenn sie dem Wunsch der Medien nach Selbstdarstellung in Form von Privatisierung, Personalisierung und Intimisierung der Features zu ihren Personen nachkommen. Die Medien wollen teilhaben an ihrer persönlichen Lebenswelt, an ihren privaten Räumen und ihren Alltagsdramen bis hin zur Inszenierung ihres Privatlebens. Die Politiker wiederum wollen durch ein mediengerechtes Subjektivierungsangebot, das – in der Wirkung ähnlich einer Fernsehsoap – durch Identifikation neue Zielgruppen erschließt, ihre Reichweite vergrößern. Das bekannteste Beispiel lieferte auch hier der Vorsitzende der »Spaßpartei« FDP, Guido Westerwelle, als er neben dem deutschen Großintellektuellen Slatko im »Container« einer Fernsehsoap auftrat. Kurzfristig profitieren die Medien von diesen populär- bzw. popkulturellen Ereignisse in Form höherer Einschaltquoten, aber auch hier gilt, dass Politiker nur zeitgleich durch solche Aktionen Erfolge erzielen können, langfristig aber durch die repetitive Rezeption beim Publikum mit neuen – bis hin zu gänzlich negativen – Beurteilungen aufgeladen werden können. Wie oft mögen sich die deutschen Fernsehzuschauer Walter Scheels Gesangskunst (»Hoch auf dem gelben Wagen«) zu Gemüte geführt haben: mit Sicherheit hat sich die Wahrnehmung im Lauf der Zeit verändert, ohne dass dies noch der Kontrolle des Politikakteurs und Bundespräsidenten Scheel unterlegen wäre.

Zwei Fragen stellen sich also immer: Degeneriert Politik zur bloßen Inszenierung oder dominiert die Inszenierung den Inhalt? Beides ist für Politiker gleich schädlich. Der Versuch der Medien, den Politikeralltag zum Event zu machen, geht nur einher in Form eines Einbruchs in und/oder einer Dramatisierung des Politikeralltags. Niemand darf sich aber die politischen Akteure nur als unbeteiligte Marionetten der Medienindustrie vorstellen. Gerade politisch Handelnde müssen selbst bestimmen, wie sie sich in Szene setzen lassen wollen. Ihr Urteil muss die Folgen ihres Tuns berücksichtigen, sonst sind sie für das Geschäft der Politik ungeeignet. Richtig ist und bleibt: »(E)ine schauspielerische Leistung jedoch, die als solche – für diese – im Schein des Sein erscheint, findet auf der politischen Bühne keinen Applaus. Applaus erhält der, der durch die Kunst der pragmatischen Theatralität so auf andere zu wirken vermag, dass – für diese – im Schein das Sein erscheint, dass also der theatrale Ausdruck für das Publikum politische Qualitäten präsent machen kann. Um seine pragmatischen Inhalte öffentlich zu vermitteln, bedient sich der Politiker ästhetischer Gestaltungsmittel. Er schöpft bei seiner Darstellung aus dem Theaterhaften, dem Bereich des ›Als-ob‹, der kalkulierten Verstellung und er muss dennoch als Repräsentant des Politischen im Alltag glaubwürdig handeln, das heißt, das ›Als-ob‹ darf nicht als solches erkennbar sein.« (Christina Kugler / Ronald Kurt, Inszenierungsformen von Glaubwürdigkeit im Medium Fernsehen, in: Fischer-Lichte / Pflug 2000, 154f.) Authentisches Handeln schließt also offensichtliche Elemente der Inszenierung im Sinne eines ›so tun als ob‹ aus.

Die Kultur der Inszenierung bzw. die Kultur des Selbst findet heutzutage in vielen gesellschaftlichen Bereichen statt. Es gibt aber auch Theatralitätsgrenzen, die neben den Enttheatralisierungen Bestand haben. In gewissen Bereichen wie z. B. Intimbeziehungen gelten regelrechte Inszenierungsverbote. Dagegen verlangen andere Bereiche Inszenierungen zwingend – ob bei den Vermarktungs- und Selbstvermarktungsprinzipien im Sport, Entertainment oder in Managerkreisen, in der Wissenschaft oder Erotik, bei Greenpeace oder auf der Volksbühne von Christoph Schlingensief. Auf vielen Handlungsfeldern sind Erfolge mehr oder weniger abhängig von Theatralitäts- bzw. Inszenierungsfaktoren. Soziale Differenzierung führt zur Theatralisierung von sozialen (Sub-)Systemen. Auch in der Privatsphäre müssen sich Menschen ›inszenieren‹, um aufzufallen und zu gefallen. Der Inszenierungsdruck ist heute allgegenwärtig, auch wenn sich ›Theatralitätswerte‹ in den verschiedenen Rollen und Rollenrepertoires unterschiedlich darstellen. Gerade da es sich nur um kontemporäre Rollen und Rollenhaushalte handelt, wird sich jede Art von populärkultureller Inszenierung irgendwann zu Tode laufen. Die modische Inszenierung wird die Menschen zunehmend langweilen, sie wird ›out‹ und zugleich als profan ›geoutet‹ werden. All dies ist nur Teil einer ständigen gesellschaftlichen Entwicklung. So wie die Modewellen kommen und gehen, wird die Inszenierung des Zeitgeists unmodern, ja unnatürlich werden, als unelegant wieder im Orkus der Moden verschwinden. Für die Privatperson ist dies normalerweise kein Problem. Man lacht heute über die langen Haare der späten 70er und frühen 80er Jahre oder über die Popfrisuren der mittleren und späten 80er Jahre. Man schmeißt weg, was man nie sehr ernst nahm. Man hat mitgemacht, aber nicht zum Preis einer gespielten Authentizität. Aber für Politiker bleibt vieles der selbstinszenierten Medienkonserven Belastungs- und Gegenüberstellungsmaterial für den Rest ihrer politischen Laufbahn, insbesondere wenn das Schauspiel nur als Selbstzweck oder als Ablenkungsmanöver diente. Gesellschaftliche Referenzsysteme verändern sich, die politische Evidenz der Selbstinszenierung bleibt aber dauerhaft mit diachronem Wahrnehmungs- und Bedeutungspotential erhalten. Unabänderlich wird, wer sich nicht zu seinen Handlungen bekennen will oder kann, ihnen wieder und wieder medial gegenübergestellt. Politiker-Auseinandersetzungen basieren auf Elephantengedächtnissen, die Kontrolle durch die Medien auf der repetitiven Verwertung archivierter Mitschnitte. Mediengeilheit und unkontrollierter Selbstinszenierungsopportunismus brandmarkt manche Politikerlaufbahn.

Die These des saarländischen Ministerpräsident Peter Müller, dass »Politik Theater sei«, kann daher ebenso verworfen werden, obwohl ihr prinzipieller Reiz darin liegt, dass sie die Idee der FDP-Parteigeschäftsführung vom Frühjahr 2003 erklären könnte, von den Pressevertretern zu ihren Parteitagen Eintritt zu verlangen (taz v. 15. 4. 2003). Aber zurück zu Müller: Im Theater ist klar, dass der Schauspieler nur eine Rolle spielt, wohingegen der Politiker immer auch er selbst ist. Wer dies nicht erkennt, unterliegt einem erheblichen Realitätsverlust, der insbesondere Politikern zum Nachteil gereichen kann. Und es ist gleichfalls nicht richtig, wenn Peter Müller schlussfolgert: »Politik hat deshalb, wenn Sie es positiv formulieren wollen, das Ziel der Versöhnung von Wahrheit, dem was man subjektiv als Wahrheit erachtet, und Mehrheit. Politik hat das Ziel, die Mehrheit von der subjektiven Wahrheit zu überzeugen. Um dieses zu erreichen, braucht sie Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit wird auch durch theatralische Darstellung erreicht. (...) Sie können es auch negativ ausdrücken. Politik steht möglicherweise manchmal vor der Herausforderung, auf die Dokumentation von Wahrheit zu verzichten, um die Mehrheit nicht zu gefährden. Die Frage ist nun, ob und inwieweit die Inszenierung von Politik, das Theater in der Politik, dazu ein legitimes Mittel ist.« (Peter Müller, Das haben wir dann gemacht. Warum die Politik Theater veranstaltet, in: FAZ v. 28. 3. 2002) Was Müller hier beschreibt, ist Populismus, aber keinesfalls Politik. Hier gibt es keinerlei Kriterium mehr außer der Zustimmung einer Mehrheit.

Nicht weniger falsch ist Müllers These, man sei in unserer Gesellschaft auf das politische Theater angewiesen, um Nachrichten zu produzieren. Im täglichen politischen Prozess fallen die meisten Entscheidungen in Gremien, Parlamentssitzungen, Parteisitzungen. Seine platte These, »je mehr Theater, um so größer die Chance, dass eine Nachricht entsteht«, signalisiert politische Hilflosigkeit und Ohnmacht, aber nicht legitimes Theater, wie Müller in Kontext der Bundesratsabstimmung zum Einwanderungsgesetz glauben machen wollte. Seine Rechtfertigung, die dort zum Ausdruck gebrachte Empörung habe einen ehrlichen Hintergrund gehabt und sei daher legitim, ist geradezu paradox angesichts des Eingeständnisses, die im Bundesrat geäußerte Empörung sei verabredet gewesen. Das Theater mit seinem für das Gremium Bundesrat ungewöhnlichen Maß an Aufgeregtheit war nicht nur unnötig, es hat auch nichts bewirkt. Entschieden wurde die Angelegenheit in Karlsruhe, dokumentiert wurde nur mangelnde Koordinierungsfähigkeit und Loyalität seitens der CDU/CSU-Bundesratsmitglieder.

Die weitverbreitete und viel diskutierte These, dass Regieren nur durch ›Individualisieren‹ möglich sei, erscheint in diesem Licht gleichfalls als nicht mehr plausibel. Jegliche Art individueller Inszenierung macht einen Politiker anfällig. Sie stellt ihn unter einen Täuschungs- und Opportunismusverdacht, der sein politisches Gewicht schmälern und beschädigen kann. Anders verhält es sich mit den eingangs beschriebenen politischen Inszenierungen, die den Anspruch des Einzelnen übersteigen und einen Hegemonialanspruch auf gesamtgesellschaftliche Ereignisse und Ideale erheben. Hier hängt es zwar auch davon ab, welche politischen Ziele mit der Inszenierung verbunden und wie authentisch sie sind, aber da es sich immer um Koalitionen von Trägern des Transformationsanliegens handelt, wird den Beteiligten normalerweise kein Selbstinszenierungswunsch, keine Unernsthaftigkeit oder Täuschungsabsicht unterstellt.

Beruhigend ist somit festzuhalten, dass die von vielen diagnostizierte Transformation der Demokratie als Resultat einer um sich greifenden Politiktheatralisierung nicht stattfinden wird. Die parlamentarische Demokratie wird nicht durch eine mediengesteuerte Demokratie abgelöst werden, wenn überhaupt, werden die Medien nur den Austausch des Politikpersonals durch ›unglaubhafte Selbstinszenierungen‹ beschleunigen. Die entsprechenden Untergangsszenarien der parlamentarischen Demokratie sind schlichtweg falsch. Die selbsternannten politischen ›Macher‹ der Talkshows werden viel eher im politischen Alltag Wählerfrustrationen ob der nicht gehaltenen Versprechen säen – und anschließend bei Wahlen die dementsprechenden Resultate ernten. Wer immer politischer Akteur ist, kann sich nicht außerhalb der parlamentarischen institutionalisierten Prozesse stellen und populistisch suggerieren, dass die Lösung ernster politischer Probleme auf dem Weg zum nächsten Zigarettenautomaten mitzuerledigen wäre. Wäre dies anders, müssten wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, die einst Möllemann stellvertretend für alle beantwortet hat. »Was, wenn der Fallschirm einmal nicht aufginge?« – »Vorbei. Scheißspiel.«